Kohls größtes Plus seit 14 Jahren

■ Nürnberger Bundesanstalt meldet mit 4,65 Millionen Erwerbslosen einen neuen Nachkriegsrekord. Allein seit Dezember gab es einen Zuwachs von 510.000 Jobsuchenden. Damit ist jetzt jeder achte ohne Arbeit

Nürnberg (taz) – 4.658.267 Arbeitslose, das übertraf selbst die Befürchtungen der Experten. Die höchste Arbeitslosenzahl in der Nachkriegsgeschichte stellt sogar Werte von 1933 noch in den Schatten. Da blieb dem Präsidenten der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, nur noch „ein lauter Ruf nach dem Konsens“: „Was soll eigentlich noch alles passieren, wenn nicht jetzt jeder erkennt, daß wir mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung schaffen müssen?“

An der fehlt es an allen Ecken und Enden, und sie verringert sich in den alten und neuen Bundesländern von Monat zu Monat. Kein Wunder also, daß die Arbeitslosenzahlen explodieren. 4,66 Millionen Arbeitslose, das sind 510.100 mehr als im Vormonat und 499.300 mehr als ein Jahr zuvor. Die Arbeitslosenquote beträgt nun 12,2 Prozent. Damit ist in Deutschland nahezu jeder achte ohne Job, in den neuen Bundesländern mit einer Quote von 18,7 Prozent fast schon jeder fünfte.

Nur teilweise läßt sich der neue Höchststand mit dem extrem kalten Winter erklären. Die von der Bundesregierung gestrichene Schlechtwettergeld-Regelung für die Bauwirtschaft sorgte für eine Entlassungswelle im Bausektor, der ohnehin unter den geringen Investitionen der öffentlichen Hand zu leiden hat. Allein ein Drittel der Arbeitslosenzunahme geht auf das Konto der Bauwirtschaft. Der Kohlsche Rotstift im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit ließ berufliche Weiterbildungsmaßnahmen und produktive Lohnkostenzuschüsse schrumpfen. So sinkt die entlastende Wirkung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, und die Arbeitslosenzahlen klettern nach oben.

1982, als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, gab es 1,83 Millionen Arbeitslose, jetzt sind es in der alten Bundesrepublik 3,27 Millionen – eine Steigerung um 79 Prozent. Dazu kommen in den neuen Bundesländern 1,39 Millionen Arbeitslose. In ihren ersten Stellungnahmen sprachen SPD und Bündnisgrüne von einem „schwarzen Donnerstag“ und erklärten die Politik von Kohl für „gescheitert“. Während SPD-Parteichef Oskar Lafontaine die Befreiung der Sozialkassen von versicherungsfremden Leistungen sowie Steuererleichterungen für Arbeitnehmer und Familien schon zum 1. Januar 1998 fordert, will Fraktionschef Rudolf Scharping „Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schaffen“ und härter gegen illegale Beschäftigung vorgehen.

Neben dem Vorwurf, die SPD solle endlich ihre Blockadehaltung bei der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer sowie der Steuer- und Rentenreform aufgeben, gehen manche Unionspolitiker mit SPD-Forderungen konform. Arbeitsminister Norbert Blüm plädierte für ein neues Bündnis für Arbeit und verlangte einen Abbau von Überstunden. Der Vorsitzende des Bundestagswirtschaftsausschusses, Friedhelm Ost, sprach sich dafür aus, die Steuerreform auf 1998 vorzuziehen.

Nach Ansicht des Sozialpolitikers und stellvertretenden Vorsitzenden der CDU- Bundestagsfraktion, Heiner Geißler, ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht zumutbar, wenn der Konsens in der Gesellschaft erhalten bleiben soll. Der Anstieg sei auch dadurch verursacht, daß nicht alle Teilnehmer der Kanzlergespräche des vergangenen Jahres ihre dort eingegangenen Verpflichtungen erfüllt hätten. Er kritisierte vor allem die Arbeitgeber. Diese hätten im vorigen Jahr Kostensenkungen sowie die Lockerung des Kündigungsschutzes und gesetzliche Möglichkeiten für mehr befristete Arbeitsverträge gefordert.

Nur die FDP läßt sich vom Arbeitslosenrekord nicht weiter beirren. „Befreiung des Arbeitsmarktes von überflüssigen Schutzbestimmungen“ lautet die Parole ihres wirtschaftspolitischen Fraktionssprechers Paul Friedhoff. Die bündnisgrünen Vorstandssprecher Gunda Röstel und Jürgen Trittin wollen dem einen Riegel vorschieben: „Weiterer Sozialabbau, Wegfall von Kündigungsschutzklauseln und Änderungen beim Schlettwettergeld haben nur einen Effekt: Die Zahl der Arbeitslosen und die Gefahr ihres Absinkens in die Armut wird größer.“ Bernd Siegler

Tagesthema Seite 3