■ Deutsche Linke mißverstehen den Kommunitarismus häufig als Sozialstaatsdebatte. Dabei geht es um Demokratie
: Kommunitarismus – eine US-Droge?

Verfolgt man, was in der taz in letzter Zeit über Kommunitarismus geschrieben wurde (u. a. von Micha Brumlik, Andrea Böhm, Lutz Meyer und Wolfgang Engler), so stößt man auf zwei grundlegende Mißverständnisse. Erstens wird der Kommunitarismus als gefährlicher US-Importartikel verstanden, der sein süßes Gift langsam auch in Deutschland ausbreitet. Zweitens wird die Kommunitarismusdebatte als Sozialstaats- statt als Demokratiediskussion geführt. Beide Mißverständnisse sind typisch für eine Tradition in der Linken, die auf den Staat und das Soziale fixiert ist und mit der republikanischen amerikanischen Tradition nichts anzufangen weiß.

Die These vom Kommunitarismus als US-Droge, die den Sozialstaat zerstört, übersieht, daß es gerade in Deutschland eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit den Fragen gibt, die die Kommunitaristen aufwerfen. Das Unbehagen an der „Kälte“ moderner, atomisierter Gesellschaften war bereits um 1900 Gegenstand kultursoziologischer Debatten, an denen sich Max Weber, Georg Simmel u. a. beteiligten.

Im Mittelpunkt stand damals wie heute die Frage nach dem Verhältnis von reinen Interessengesellschaften, die sich in erster Linie am ökonomischen Nutzen orientieren, und „wärmenden“ Gemeinschaften mit wechselseitiger Solidaritätsverpflichtung. Auch in der katholischen Soziallehre, die die Subsidiarität als eine Form der dezentralen Organisation von Solidaritäten ins Zentrum rückt, finden sich viele Anklänge an kommunitaristische Positionen. Schließlich waren auch liberale Denker in der Nachkriegszeit, wie etwa Alexander Rüstow, sich trotz aller Verbundenheit mit dem Konzept der Interessengesellschaft, der Bedeutung von Gemeinschaften für die Integration der Gesellschaft bewußt. Etwas verschroben liest sich das bei Rüstow 1957 so: „Die Verteidiger der Gesellschaft sind vollkommen im Recht, wenn sie sie als schlechterdings unentbehrlich betrachten. Jede sinnvolle und produktive Kritik an der Gesellschaft kann deshalb nur immanente Kritik sein. Andererseits werden die Verteidiger der Gesellschaft aber zugeben müssen, daß Gemeinschaft, von der Familie angefangen, gleichfalls lebensnotwendig ist und daß es sich also darum handelt, das rechte Gleichgewicht zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft in den verschiedensten Hinsichten zu finden.“

Wenn also heute vor dem Hintergrund wachsender gesellschaftlicher Fragmentierung die Kommunitarismusdebatte auch in Deutschland einen Widerhall findet, so wird damit lediglich eine Kontroverse wiederbelebt, die aufgrund der nationalsozialistischen Manipulation des Gemeinschaftsbegriffes unterbrochen war. Es bedurfte gewissermaßen erst des Umweges über die USA, wo diese Debatte ideologisch nicht befrachtet ist, um auch hier an der Kritik moderner Gesellschaft wiederanknüpfen zu können.

Das erste Mißverständnis der Kommunitarismusdebatte produziert in gewisser Weise das zweite gleich mit. In den meisten taz-Beiträgen wird Kommunitarismus mehr oder weniger auf sozialstaatliche Fragen reduziert. Bei Andrea Böhm liefert die „kommunitaristische Rhetorik“ lediglich die Begleitmusik zu einer von der amerikanischen Rechten inszenierten Tabula-rasa-Politik im sozialen Bereich, bei Micha Brumlik degenerieren Gemeinsinnappelle zur Verteidigung einer Austeritätspolitik, bei Wolfgang Engler mutiert der bürokratische Sozialstaat zum eigentlichen Stifter gesellschaftlicher Solidarität. Diese Positionen reproduzieren das Demokratiedefizit, das die Sozialstaatsdiskussion in Deutschland auszeichnet. Dabei stehen sich in schöner Regelmäßigkeit Etatisten und Neoliberale aller Schattierungen gegenüber. Und von beiden Seiten werden die Betroffenen nicht als Bürger angesprochen, deren soziale und politische Kompetenz gefragt ist, sondern entweder als Objekte staatlicher Sozialpolitik oder als Kostenverursacher im ökonomischen Globalwettbewerb behandelt. Diese Fixierung ist Etatisten und Neoliberalen gemeinsam.

Die meisten US-Kommunitaristen dagegen kommen aus einer partizipativen Tradition. Ihre Kritik am selbstbezogenen Individualismus und der sozialen Desintegration zielt nicht einfach auf die Demontage des Sozialstaates (der in den USA sowieso von einem anderen Zuschnitt ist), sondern auf gesellschaftliche Integration durch die Mobilisierung politischen Gemeinsinns. Sie können sich dabei auf einen in der US-Geschichte tief verwurzelten Republikanismus stützen, der lokalen Gemeinschaften, religiösen Gruppen und freien Assoziationen einen großen Stellenwert in der Gestaltung einer Bürgergesellschaft einräumt. Es geht also in der Kommunitarismusdiskussion in erster Linie um mehr Demokratie durch Stärkung der Zivilgesellschaft und nicht um eine Individualisierung von sozialen Risiken. So tragen die Kommunitaristen der Gefahr Rechnung, daß eine individualisierte Gesellschaft, die sich aller kollektiven Verbindlichkeiten entledigt und in der „kosmische Singles durch Raum und Zeit gleiten“ und „das Einzimmerapartment als Fluchtpunkt des Universums fungiert“ (Peter Sloterdijk), an Solidaritätserschöpfung leidet. Je abhängiger und vereinzelter die Individuen, so Michael Walzer, um so stärker der Staat, weil er zum wichtigsten sozialen Zusammenhalt wird.

Während in den USA die kommunitaristische Position von der Frage ausgeht, wie eine demokratische Gesellschaft jenseits sozialstaatlicher Agenturen das „soziale Kapital“, das sie zum Überleben braucht, aus sich selbst heraus generieren kann, wird in der deutschen Rezeption der Kommunitarismus zu einem gefährlichen Gebräu in konservativer Hand hochgekocht. Dabei gäbe es genug Möglichkeiten, den Kommunitarismus mit sozialverträglicher Politik zu verbinden. Traditionelle Vereine, Verbände, kirchliche Träger und Selbsthilfegruppen, die aus den neuen sozialen Bewegungen hervorgingen, können soziale Interessen nicht als gruppenspezifische Klientelpolitik, sondern als demokratisches Anliegen artikulieren: Eigeninitiative und soziales Engagement nicht als Kompensation staatlicher Sozialpolitik, sondern als politische Aktivität. Erst so wird der Staat, der mehr Verantwortung des einzelnen fordert, auf die Probe gestellt: Ist Bürgerbeteiligung erwünscht, oder wird sie als Störung behandelt? Wird Eigeninitiative ermutigt oder behindert? Solange Etatisten und Neoliberale die Debatte bestimmen, werden wir in Deutschland wohl noch lange auf ein kommunitaristisches Manifest dieses Zuschnitts warten müssen. Lothar Probst