Nur vom Vichy-Regime will niemand sprechen

■ Daniel Goldhagen rief zur Debatte in Paris, und über 1.000 Menschen kamen

Paris (taz) – Kaum ist sein Buch auf Französisch erschienen, sorgt Daniel Jonah Goldhagen auch in Paris für Aufruhr. Zur ersten öffentlichen Debatte mit dem jungen US-amerikanischen Holocaust- Forscher und drei rund doppelt so alten Herren aus der französischen Wissenschaft waren am Donnerstag weit über 1.000 Menschen gekommen. Viele Jugendliche, aber auch zahlreiche Prominente aus Medien und Politik sowie eine Handvoll ehemaliger Résistants und Überlebender der Lager. Knapp 500 paßten in den holzgetäfelten Saal der Cité Universitaire – der große Rest blieb ausgesperrt.

Während die vielen von außen auf die Türen polterten und „Faschisten“ skandierten, eröffnete drinnen Goldhagen die Debatte über „Hitlers willige Vollstrecker“. „Ich will nicht provozieren“, erklärte er ungerührt von den Emotionen, die an den Saaltüren hochkochten, „ich bin bloß ein Geschichtsforscher.“ Dann vollzog er einen fünfzehnminütigen Parforce-Ritt durch seine Thesen: über die Lust der „gewöhnlichen Deutschen“ an der Judenjagd und am brutalen Morden, über die anschließenden „Todesbankette“ und über die triumphalistischen Fotos, die die freiwilligen Killer hinterher voneinander schossen.

Die Zusammensetzung der drei Gruppen, die er untersucht hat – ein Polizeibataillon, das Wachpersonal in einem Arbeitslager und die Bewacher eines Todesmarsches – bezeichnete der Soziologe Goldhagen als „repräsentativ“. Die Rückschlüsse von ihrem Verhalten auf das „der Deutschen“ insgesamt bezeichnete er nicht nur als möglich, sondern als schlechterdings „zwingend“.

Politologe Alfred Grosser, der sein Leben lang für die Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen gearbeitet hat, schüttelte sorgenvoll den Kopf. Er erinnerte daran, daß viele Juden starben, weil sie nicht emigriert waren – sei es, weil sie nicht gewollt hatten, sei es, weil sie nicht konnten, unter anderem weil die Immigrationsquoten der USA erschöpft waren. Er erwähnte die anderen Deutschen, die „dieselben Schulen“ wie die Killer besucht hatten, anschließend aber als Verteidiger jüdischer Opfer auftraten, und nannte die 100.000 Befehlsverweigerer und Deserteure. Er wies darauf hin, daß in den Konzentrationslagern nicht nur Juden ermordet wurden, und sprach von Antisemitismus in anderen Ländern, den Goldhagen übergehe.

Die einfache Gleichung von den bösen, weil antisemitischen Deutschen griff auch das Pariser Publikum auf. Warum er nur über die mordenden Aufseher der Todesmärsche geschrieben, die Menschen am Wegesrand aber, die den erschöpften KZ-Opfern Brot gaben, nicht einmal erwähnt habe, fragte eine Französin. „Darunter waren viele Ausländer“, rechtfertigte Goldhagen.

Ob „die Deutschen“ jener Jahre tatsächlich so generell antisemitisch waren, wie Goldhagen es ihnen unterstellt, und ob sie heute geläutert sind, blieben die wichtigsten Fragen des Abends. Die kolonialen Engagements Frankreichs erwähnte nur ein einziger Redner, der sich als einstiger Résistant vorstellte und lieber nicht wissen wollte, welche Verbrechen seine damaligen Kameraden später in Indochina und Algerien verübten.

Wenige Stunden vor dem Beginn der Diskussion mit Goldhagen war ein Spitzenbeamter des Vichy-Regimes wegen der Komplizenschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor ein Schwurgericht geschickt worden. Doch von Maurice Papon, von den französischen Polizisten, die in Frankreich 70.000 Juden aus ihren Wohnungen abholten, von den antisemitischen Statuten zwischen 1940 und 1944 und von den vielen privaten Kollaborateuren sprach an diesem Abend niemand. Dorothea Hahn

„Les bourreaux volontaires de Hitler. Les Allemands ordinaires et l'Holocauste“, Editions du Seuil, Paris 1997