Saison der Fleischeslust

Venedig im Karneval: Mit dem wilden Masken- und Liebesfest des 18. Jahrhunderts hat das junge Spektakel wenig gemein  ■ Von Till Briegleb

Die Össis sind schuld. Hätten sie nicht ab 1798 für knapp 60 Jahre die große vaterländische Depression über die Venezianer gebracht, es gäbe heute noch den ältesten und berühmtesten Karneval der Welt in ungebrochener Tradition. Da aber unter der Fremdherrschaft des Alpenvolkes und im Angesicht von Radetzkys Massakern am Rialto keine rechte Stimmung mehr aufkommen wollte, schaffte sich der ehemals so großartige und im 18. Jahrhundert über ein halbes Jahr als Dauereinrichtung zelebrierte venezianische Karneval selbst ab.

Als dann 1980 sogenannte „Künstler“ das Masken- und Liebesfest wieder ausbuddelten und an die Herzrhythmusmaschine des Massentourismus anschlossen, war etwas Neues entstanden, das mit dem ursprünglichen wilden Karneval nur laut Reiseführer noch etwas zu tun hat. An den Wochenenden vor dem Aschermittwoch besuchen bis zu eine Million Gäste das Spektakel, und diese bestimmen im Kern dessen Inszenierung als Konfektions-Karneval – und hinterlassen katastrophale Mengen an Dreck und Schäden. Für diese Art der von Reiseveranstaltern gerne „farbenfroh“ und „zauberhaft“ titulierten Massenvergnügungen muß man schon eine feine masochistische Ader haben, um daran Spaß zu haben.

Aber dank der Angst der American-Express-Reisegruppen, sich in Venedig zu verlaufen, kann man schon wenige Meter abseits der touristischen Kanalisation das wiederfinden, was ein zeitgenössischer Abglanz des ursprünglichen Karnevals ist. Mit den Rituals of Rebellion aus der Glanzzeit dieser auf die römischen Saturnalien zurückgehenden Feierlichkeit hat allerdings auch der volkstümliche Karneval im heutigen Venedig wenig zu tun.

Damals war die angeblich fleischlose Zeit in Venedig eine Saison der Fleischeslust und Ausschweifungen, die weder durch Luxusgesetze noch Armut, weder durch staatliche Vermummungsverbote aus Angst vor Verschwörung noch die sich rapide ausbreitende Syphilis begrenzt werden konnte. In der fünften Jahreszeit war der Doge so machtlos wie die Vernunft – und das war 1400 nicht anders als 1700. 1997 fährt man mit solchen Gelüsten allerdings besser nach Rio.

Zwischen den Feiertagen ist Venedig dann wieder die naßkalte, winterlich graue Lagunenstadt, in die sich Melancholiker und Kunstfreunde so gerne flüchten. Dann kann man auf den Spuren venezianischer Maler wie Carpaccio, Bellini, Tizian und Lotto die Stadt durchstreifen. Meist reichen für einen einwöchigen Aufenthalt zwei der höchst originellen Meister, um Venedig bis in seine unberührtesten Ecken hinein zu erkunden. Und auf dem Weg zwischen Kirchen, Kapellen und Scolas wird man eine Stadt kennenlernen, das als Schauplatz karnevalesker Phantasien der vielleicht geeignetste und schönste Ort der Welt ist.