In Bulgarien läuft die Opposition Sturm, die Sozialisten wollen aber nicht vorzeitig abtreten. Der gewalttätige Protest vom Wochenende hat gezeigt, daß die Menschen die Hoffnung aufgegeben haben, Veränderungen parlamentarisch durchzusetzen

In Bulgarien läuft die Opposition Sturm, die Sozialisten wollen aber nicht vorzeitig abtreten. Der gewalttätige Protest vom Wochenende hat gezeigt, daß die Menschen die Hoffnung aufgegeben haben, Veränderungen parlamentarisch durchzusetzen

Ein Aufbegehren aus Verzweiflung

Brennende Rover und Mercedes, ein Teil des Mobiliars der Volksversammlung, des bulgarischen Parlaments, liegt zerstört auf dem Hof, Fenster von Häusern auf dem zentralen Platz in Sofia sind eingeschlagen. Mehr als 150 Verletzte müssen im Krankenhaus behandelt werden, 10 von ihnen werden noch in der Nacht zu Samstag operiert, darunter der ehemalige Ministerpräsident Bulgariens und Abgeordneter der Union Demokratischer Kräfte, Filip Dimitrow. „Unter den Demonstranten sind viele Agenten von Geheimdiensten, die sie zielgerichtet zu extremistischen Taten provozieren“, resümiert der Vorsitzende der Union der Demokratischen Kräfte (SDS), Iwan Kostow.

Das sind die ersten Ergebnisse einer bisher beispiellosen Entwicklung in der Geschichte Bulgariens. Mehr als zehn Stunden lang hatte am Freitag die Belagerung des Parlaments durch Zehntausende von Bulgaren gedauert. Einhellige Forderung der Demonstranten: eine Abstimmung über eine von der Opposition vorgeschlagene Deklaration zur Rettung Bulgariens. Die Deklaration sieht vor, keine neue sozialistische Regierung einzusetzen, sondern so schnell wie möglich vorgezogene Neuwahlen durchzuführen und einen Währungsrat einzusetzen; dieser Währungsrat war Bulgarien vom Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgeschlagen worden – als letzter Ausweg des südosteuropäischen Landes aus der ökonomischen Krise.

Die bulgarischen Sozialisten lehnen vorgezogene Neuwahlen ab. Der Führer der Regierungskoalition, Krasimir Premjanow, hatte noch kurz zuvor verkündet: „Vorgezogene Wahlen wären für Bulgarien eine Katastrophe. Die Koalition hat ein vierjähriges Mandat, und wir haben nicht die Absicht, auf dieses Mandat zu verzichten.“ Dann, gegen 16.30 Uhr, bricht der Sturm los. Einigen Demonstranten gelingt es, in das Parlamentsgebäude einzudringen, weiter als zur Garderobe am Eingang kommen sie aber nicht. Gegen 18 Uhr rücken Polizeieinheiten des Innenministeriums an. Schützenpanzer sind nicht zu sehen.

Um 2 Uhr am Samstag morgen verlassen die Abgeordneten unter Polizeischutz das Parlament. Ein charakteristisches Detail: Die Polizeikräfte sind nicht mit den vorgesehenen Gummiknüppeln, sondern mit Holzknüppeln bewaffnet. Nicht zuletzt diese Tatsache erklärt die hohe Anzahl von Verletzten. Den Erlaß, jede Demonstration, wenn nötig, auch gewaltsam aufzulösen, hatte noch die letzte und inzwischen zurückgetretene sozialistische Regierung ausgegeben.

Wie konnte es dazu kommen, daß die Opposition zu solch undemokratischen Mitteln wie dem Sturm auf das Parlament griff? Die Leute sind dem Aufruf der Oppositionsführer gefolgt, weil sie jede Hoffnung verloren haben, mit parlamentarischen Methoden Einfluß auf die Regierungkoalition zu nehmen. Die regierenden Sozialisten (BSP: ehemals Kommunisten), mit anderen Parteien unter dem wohlklingenden Namen „Parlamentarische Gruppe der Demokratischen Linken“ vereinigt, verfügt in der Nationalversammlung seit den Wahlen vom Dezember 1994 über die absolute Mehrheit der Stimmen.

Bis jetzt hat sie jeden Versuch der Demokraten, die stümperhafte und manchmal sogar verbrecherische Führung zu korrigieren, niedergestimmt. Diesem Umstand braucht man nur die Veruntreuer von Staatseigentum und die offensichtlich korrumpierten Beamten auf allen Ebenen der Exekutivgewalt hinzuzufügen, um zu verstehen, wie die Wirtschaftskrise das Land anfangs nur allmählich, dann aber lawinenartig in die Katastrophe führte. Der Internationale Währungsfonds, bereits seit längerem alarmiert, hat für Bulgarien einen Währungsrat vorgeschlagen – ein Hoffnungsstrohhalm, an den sich ein Ertrinkender klammert.

Noch Ende des vergangenen Jahres hatte die scheidende sozialistische Regierung unter Ministerpräsident Schan Widenow die Idee des Internationalen Währungsfonds enthusiastisch begrüßt. Damit sollte der Zentralbank die Möglichkeit genommen werden, nach Belieben von ihrem Emissionsrecht Gebrauch zu machen, um so die Staatsausgaben und kommerziellen Banken, die zum Teil in kriminelle Machenschaften verstrickt sind, zu finanzieren.

Nun gab die Regierung kürzlich bekannt, daß die Zentralbank selbst die Funktion des Währungsfonds wahrnehmen soll. Auf bulgarisch heißt das, einen Wolf damit beauftragen, die Herde zu bewachen.

Am Samstag beruft Bulgariens Staatspräsident Schelju Schelew eine Krisensitzung ein. Bereits am Vortag hatte Schelew, dessen Mandat am 22. Januar endet und der wie sein Nachfolger Petr Stojanow aus den Reihen der Opposition kommt, es abgelehnt, der sozialistischen Partei ein Mandat zur Bildung einer neuen Regierung zu erteilen. Die Sitzung endet ergebnislos, doch fordert Schelew noch einmal mit Nachdruck einen Kompromiß: „Die Sozialisten müssen vorgezogenen Neuwahlen zustimmen, die Demokraten müssen dafür sorgen, daß diese Wahlen schnell stattfinden.“

Am Abend desselben Tages verkündet der Rektor der Sofioter Universität, er werde die Hochschule bis auf weiteres schließen und an der Seite seiner Studenten auf die Straße gehen. Ein Arzt einer Erste-Hilfe-Station in Sofia, seit Stunden ohne Pause im Einsatz, sagt: „Endlich beschäftigen sich die Leute bei uns mit den wirklich notwendigen Dingen. Wie die Lastwagenfahrer in Frankreich und die Bauern in Griechenland stellen endlich auch unsere Demonstranten mit Nachdruck ihre Forderungen. Das Seltsamste dabei ist, daß die Abgeordneten der Volksversammlung seit vielen Jahren zum ersten Mal nicht Wasser mit einem Sieb schöpfen, sondern versuchen müssen, die Probleme zu lösen, wofür wir sie ja auch gewählt haben.“ Sergej Baruch, Sofia