Amoklauf des Immunsystems

US-japanische Studie zeigt, daß Infektionskrankheiten das Allergierisiko verringern  ■ Von Wiebke Rögener

Vor mehr als 4.500 Jahren starb der ägyptische König Menes an einem Insektenstich. Die Tontäfelchen, die von diesem Ereignis berichten, dürften die älteste überlieferte Schilderung einer allergischen Reaktion sein. Allergien sind also nichts Neues in der Medizingeschichte. Doch seit einigen Jahrzehnten nimmt die Zahl sogenannter atopischer Erkrankungen – Heuschnupfen, Neurodermitis und Asthma – dramatisch zu. So zeigten Untersuchungen in der Schweiz: Während in den zwanziger Jahren weniger als 1 Prozent der Menschen an Heuschnupfen litt, waren es 1989 fast 17 Prozent. Die Zahl der Asthmakranken in den westlichen Industriegesellschaften hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt, nahezu jeder fünfte Schulanfänger leidet unter irgendeiner Allergie.

„Früher hatten die Menschen andere Sorgen. Solange vielerlei Infektionskrankheiten Gesundheit und Leben bedrohten, wurde ein Heuschnupfen einfach weniger beachtet“, heißt es gelegentlich. Die Annahme, Allergien seien nicht wirklich häufiger geworden, sondern würden heute nur mehr Aufmerksamkeit erregen, wurde zwar durch Langzeituntersuchungen widerlegt. Doch besteht offenbar ein anderer Zusammenhang mit dem Rückgang der Infektionskrankheiten. Das ergab eine jetzt im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichte Studie britischer und japanischer Wissenschaftler: Sie untersuchten 867 japanische Schulkinder, die gegen Tuberkulose geimpft worden waren. Verwendet wurde ein Impfstoff aus Bakterien, die den Tuberkulose erregenden Mikroorganismen ähnlich sind. Nach einer solchen Impfung mit abgeschwächten Erregern entwickelte nur ein Teil der Kinder eine starke Immunreaktion, wie sie auch nach einer tatsächlich durchgemachten Tuberkulose auftritt. Dieser Immunstatus wurde einmal im Alter von sechs Jahren getestet, ein zweites Mal bei den Zwölfjährigen. Gleichzeitig wurde das Auftreten atopischer Symptome registriert. Ergebnis: Kinder, die im Tuberkulin-Hauttest heftig reagieren, leiden weitaus seltener unter allergischen Erkrankungen als ihre Altersgenossen, die keine solche Immunantwort zeigen. Um die Hälfte bis um zwei Drittel ist die Häufigkeit von Asthma reduziert, wenn bei beiden Tuberkulintests eine starke Reaktion zu beobachten war. Auch Heuschnupfen und Hautekzeme sind bei diesen Kindern sehr viel seltener.

Dauerhafte Veränderungen des Abwehrsystems durch Tuberkulose oder durch eine mittels Impfung erfolgreich vorgetäuschte Erkrankung halten die Wissenschaftler für die Ursache dieses Phänomens: Im Körper gibt es zwei Gruppen von sogenannte T-Helferzellen, die als Th1 und Th2 bezeichnet werden. Diese Abwehrzellen geben unterschiedliche Signalstoffe ab und steuern damit die nachfolgende Immunreaktion. Bei Allergikern überwiegen die Zellen vom Th2-Typ. Sie fördern die Ausschüttung von IgE-Antikörpern und damit auch die bekannte Überreaktion des Körpers auf eigentlich harmlose Substanzen. Bei Infektionskrankheiten wie der Tuberkulose werden dagegen die Th1-Zellen aktiviert und damit die Th2-Zellen zurückgedrängt. Tatsächlich fanden die Forscher bei der Gruppe mit ausgeprägter Tuberkulinreaktion vermehrt Signalstoffe aus Th1-Zellen.

Ein Immunsystem, das sich frühzeitig mit Infektionskrankheiten auseinandersetzen muß, wird demnach in einer Weise geprägt, die Allergien entgegenwirkt. Bleiben aufgrund verbesserter Hygiene und medizinischer Versorgung solche Konfrontationen aus, neigt das gelangweilte Immunsystem möglicherweise zum Amoklauf. In der untersuchten Region Japans reagierten Mitte der sechziger Jahre 85 Prozent der Kinder positiv im Tuberkulintest. Heute sind es noch 58 Prozent. Die Anzahl der Tuberkulosekranken reduzierte sich in den letzten zwanzig Jahren um zwei Drittel. Gleichzeitig stieg wie in anderen Industriestaaten die Zahl der Allergiker rapide an. Ein Zusammenhang scheint nach den jetzt vorgelegten Ergebnissen zumindest plausibel.

Andere Wissenschaftler widersprechen allerdings einer solchen Deutung. So meint Thomas Platts- Mills, Leiter des Asthma- und Allergiezentrums der University of Virginia: „Ich wette, daß diese Interpretation falsch ist.“ Er hält einen noch unbekannten genetischen Faktor für verantwortlich, der sowohl eine starke Tuberkulinreaktion bewirken als auch gegen Asthma schützen soll. Für den Anstieg allergischer Erkrankungen innerhalb weniger Jahrzehnte liefert diese Annahme aber keine Erklärung. Der kurze Zeitraum läßt relevante genetische Veränderungen völlig ausgeschlossen erscheinen.

Interessant sind die japanischen Beobachtungen auch in deutsch- deutschem Zusammenhang: Heftig diskutiert wurde in den letzten Jahren, daß Kinder in den neuen Bundesländern weit seltener unter Allergien leiden als ihre Altersgenossen aus der alten Bundesrepublik. So fand man bei einem Vergleich von Leipzig und München deutlich mehr Asthmakranke in der bayerischen Metropole, obwohl die Belastung der Luft mit Schadstoffen hier viel geringer ist. Vieles spricht allerdings dafür, daß speziell Autoabgase Allergien fördern. Mit der Zahl der Kraftfahrzeuge nimmt seit der Wende auch in den östlichen Bundesländern das Allergieproblem zu (siehe taz vom 26. 3. 96).

Die unterschiedliche Impfpraxis könnte ein weiterer Baustein zur Erklärung der Differenzen zwischen Ost und West sein: In der DDR wurden bis 1989 praktisch alle Kinder gegen Tuberkulose immunisiert, während die Impfung im Westen seit den 60er Jahren immer seltener geworden ist. Über Nutzen und Fragwürdigkeit der Tuberkulose-Impfung streiten die Experten. Ob diese Stimulierung des Immunsystems in Ostdeutschland zumindest das Allergierisiko verringerte, bliebe zu überprüfen.