„Es sind natürlich unbegabte Menschen“

■ Der Regisseur Hans Neuenfels über Ödön von Horváths Figuren und Sprache

taz: Sie haben im Münchner Residenztheater Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ inszeniert. Was hat Sie daran interessiert?

Hans Neuenfels: Daß dort Geschichten über Leute erzählt werden, die keine Helden sind, keine ungewöhnlichen Schicksale haben, sondern die sich in der Schablone des Möglichen, des Alltäglichen – wie ja fast alle – verhalten. Die aber plötzlich an ihre Ränder stoßen, sei es durch sich selbst, sei es durch Zufälle, sei es durch die Zeit, sei es durch ihre namenlose Unbegabung. Das ist auch das Arrogante von Horváth: Es sind natürlich unbegabte Menschen.

Wollten Sie dieses Stück, das 1931 eminent politisch war, aktualisieren?

Nein. Für mich war dieses Stück sofort aktuell. Und zwar in dem Sinn, daß diese Latenz, diese faschistoide Latenz, für mich keine Vergröberung mehr braucht.

Vergröberung ist aber etwas anderes als Aktualisierung.

Also Aktualisierung. Ich habe mich für die Zeit besonders interessiert. Und ich fand, daß dieses völkische Moment oder die Biergärten und all dieses banale Zeugs, wenn es sich so ausdrückt, aktuell genug ist. Ich sah keinen Anlaß, das aus seiner Zeit zu heben.

Es gibt bei Ihnen aber Einschübe, die wohl das Grauen, das folgt, symbolisieren sollen.

So ist es. Aber das ist eigentlich keine Aktualisierung, sondern eine Weiterfortführung. Sehen Sie, ich habe mir das ganze Jahr 1930 kommentieren lassen. Das war so ein Stapel von Zeitungen. Ich wußte fast gar nichts Konkretes. Daß zum Beispiel 1930 der Horst Wessel in Berlin ermordet wurde, aus dem Prostituiertenmilieu, daß ihn anschließend Goebbels zum Märtyrer erklärt hat und die Kommunisten beschuldigt wurden. Daß Horváth bereits 1931 perdu war, abgesetzt, vom Spielplan genommen! Nicht 1938 oder 1939! Der Krieg ging 1945 zu Ende, das war also 15 Jahre früher. Zu zeigen, wie lange das gebraucht hat, ist etwas anderes als Aktualisierung.

Die Frage ist, ob der „Wiener Wald“ für die Zuschauer inzwischen ein historisches Stück ist, oder ob es Möglichkeiten gibt, durchgängige Muster für heute greifbar zu machen.

Ja, aber mit den Mitteln der Figuren. Nicht indem ich – was für mich ein Problem wäre in so einem Stück – nun plötzlich Neonazis auftreten lassen würde.

Im Zentrum des Stücks steht das traurige Schicksal eines jener Fräulein, die bei Horváth häufig als Sinnbild des Opfers der kapitalistischen und spießbürgerlichen Gesellschaft auftreten. Gibt es diese Fräulein heute noch?

Die sozialen Zustände sind heute andere, aber die Enttäuschung von damals gibt es noch, die Verzweiflung etwa, nicht den richtigen Mann gefunden zu haben. Auch die Not gibt es noch, die Einsamkeit, die Enttäuschung des Individuums, nicht das zu erreichen, was es geträumt hat. Das erlebe ich ja ständig, etwa bei meinen jungen Schauspielerinnen und Schauspielern, Assistentinnen und Assistenten. Sie können sich zwar vor den Fernseher flüchten, aber die Not wird dadurch nicht gemindert.

Horváths Sprache ist eine Volkssprache, die sich gleichzeitig ständig zitiert. Hat Ihnen das Kopfzerbrechen gemacht?

Es gibt Schriftsteller, deren Sprache man entschlüsseln muß, um die Situation zu finden. So ist das etwa bei Kleist. Bei Horváth hingegen muß man die Situationen verstehen, um die Sprache zu finden. Das heißt, die Sprache ist nie so stark, daß sie die Situation allein trägt. Es gibt wenige Sätze oder Sprachbilder, wegen denen man das Stücke inszenieren will. Alles entsteht aus den Situationen, die toll sind. Es ist eher so wie bei einem Filmautor. Interview: Thomas Pampuch