Weihnachtsfest statt Exekution

■ Am Mittwoch sollte Joseph O'Dell hingerichtet werden, jetzt hat er Aufschub erhalten – wegen Verfahrensfehlern

Washington (taz) – Weihnachten 1996 war in seinem Leben eigentlich nicht mehr vorgesehen. Doch unmittelbar vor seinem Hinrichtungstermin am 18. Dezember erhielt Joseph O'Dell, Insasse des Todesstraktes von Virginia, eine überraschende Nachricht vom Obersten Gerichtshof in Washington: Seine Exekution ist bis auf weiteres aufgeschoben. O'Dell, 1986 wegen Vergewaltigung und Mordes zum Todes verurteilt, hatte in den letzten Jahren mit Hilfe neuer Anwälte Beweise für seine Unschuld gesammelt – darunter DNA-Tests. Zudem hatte ein Belastungszeuge, der ein Geständnis von O'Dell in der Untersuchungshaft gehört haben wollte, seine Aussage inzwischen zurückgezogen (taz vom 11. 12. 1996).

Ob damit seine Chancen auf ein neues Verfahren gestiegen sind, ist zweifelhaft. Antonin Scalia, Mitglied des Obersten Gerichts, stellte ausdrücklich fest, daß der Aufschub nur aufgrund eines prozeßrechtlichen Fehlers gewährt worden ist: Bei der Strafzumessung war den Geschworenen seinerzeit nicht mitgeteilt worden, daß sie anstelle eines Todesurteils auch eine lebenslange Freiheitsstrafe hätten verhängen können. Über eine solche Option muß die Jury laut Entscheid des Gerichtshofs aus dem Jahre 1994 informiert werden. Solange nicht entschieden ist, ob dieses Urteil auch rückwirkend Gültigkeit hat, kann kein neues Exekutionsdatum festgelegt werden.

Der 55jährige Weiße hatte jahrelang seine Unschuld beteuert, in der Presse allerdings nur Aufmerksamkeit mit eher bizarren Erklärungen erregt – darunter der Forderung, nach der Exekution seine Leiche für öffentliche Ausstellungen zu präparieren. Doch angesichts des neuen Beweismaterials machte der Fall in den letzten Wochen auch international Schlagzeilen. Unterstützer richteten eine „homepage“ im Internet ein; italienische Parlamentarier sammelten Unterschriften – und letzte Woche appellierte gar der Papst an den Gouverneur des Bundesstaates, die Hinrichtung O'Dells zu verhindern.

Größere Wellen schlägt derzeit auch die Anklage gegen drei ehemalige Staatsanwälte und vier Polizisten im Bundesstaat Illinois, denen vorgeworfen wird, mit gefälschtem Beweismaterial Todesurteile gegen zwei Hispano-Amerikaner wegen Mordes und Vergewaltigung an einem zehnjährigen Mädchen erzielt zu haben. Rolando Cruz und Alexander Hernández waren letztes Jahr freigelassen worden. Cruz hatte zehn Jahre unschuldig im Todesstrakt verbracht; sein vermeintlicher Komplize Alexander Hernández drei Jahre, bevor das Urteil in eine 80jährige Haftstrafe umgewandelt worden war. Die Ermittler, von denen einer inzwischen als Richter amtiert, sind nun nach dem Geständnis eines Polizisten unter anderem angeklagt, belastende Aussagen von Cruz erfunden zu haben. Allein in Illinois sind seit 1994 fünf zum Tode Verurteilte aufgrund neuer Beweise oder Aufdeckung grober Mißbräuche auf Seiten der Staatsanwaltschaft und der Polizei freigesprochen worden.

Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA im Jahre 1976 sind rund 70 Justizirrtümer aufgedeckt worden. Nach Ansicht der Justizexperten Hugo Bedau und Michael Radelet handelt es sich hierbei nur „um einen Bruchteil“ der unschuldig Verurteilten. In diesem Jahr wurden bislang 45 Menschen in den USA hingerichtet. Andrea Böhm