Eisenbahndampf in den Händen

■ „Gertrud Kolmar: Orte“ - eine Austellung in der Staatsbibliothek über die jüdische Dichterin

„Solche Töne hörte man seit der Droste nicht ...“ rief der Kritiker Julius Bab bei der Lektüre der Lyrik Gertrud Kolmars. Doch sind die Werke der 1894 geborenen Schriftstellerin weitgehend unbekannt geblieben.

In den 20er Jahren waren einzelne Texte der Cousine Walter Benjamins noch in der Zeitschrift Die literarische Welt und in der Neuen Schweizer Rundschau erschienen. Nach 1933 engte sich der Resonanzraum ihrer Gedichte auf die Zeitung des Jüdischen Central-Vereins und Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbunds in Berlin ein. Eine Mitte der 30er Jahre entstandene Gedichtsammlung tarnte sie als Übersetzung von Arbeiten einer (fiktiven) englischen Autorin namens Helen Lodgers.

Die wichtigste Publikation Gertrud Kolmars, der Lyrikband Die Frau und die Tiere, kam im Spätsommer 1983 im Jüdischen Buchverlag Erwin Löwe heraus, nach der Progromnacht am 9. November wurden jüdische Verlage verboten. Das Buch wurde eingestampft, seine Verfasserin zu Zwangsarbeit in einer Kartonagefabrik verpflichtet und 1943 nach Auschwitz deportiert. „Verschollen“, heißt es knapp und euphemistisch in den Literaturlexika.

„Orte“ hat Ausstellungsmacherin Marion Brandt ihre Präsentation in der Staatsbibliothek überschrieben. Quer durch den Ausstellungsraum ragt ein langgestrecktes Boot. Drumherum, in Bildern, Texten, Dokumenten, die Lebensstationen Gertrud Kolmars, die eigentlich Gertrud Käthe Chodziesner hieß. Der Vater war in Berlin ein bekannter Strafverteidiger. Hier wurde sie geboren und verlebte in Falkensee eine behütete Kindheit. In Berlin und Hamburg arbeitete Gertrud Kolmer als Sprachlehrerin und Erzieherin, doch trieb es sie schließlich zu neuen Ufern. „Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände, / Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich, / Alle Wanderstraßen stürzen fort ins gelände / ... denn am andern Ende ... lächelnd stehe ich“, heißt es in ihrem Gedicht Die Fahrende. Rimbaud, Valery und Verlaine wurden zu literarischen Katalysatoren. Als Kolmar zu ihrer eigenen Sprache findet, jener „Mischung aus Empfindungslyrik und moderner Poesie“, wird sie bald darauf zum Schweigen gebracht.

Das Boot im Zentrum der Ausstellung birgt Kolmars schmales Werk samt einer Dokumentation über ihre Vorbilder und Nachwirkungen und wirkt so nicht nur als Symbol des Umgetriebenseins und Umhergetriebenwerdens, sondern zugleich als Arche. In Gertrud Kolmars Werk hat auch die Lebensstation Hamburg Niederschlag gefunden. In einem vornehmen Harvesterhuder Haushalt verbrachte sie die erste Hälfte des Jahres 1926 als Privatlehrerin. Und 1934 kehrte sie auf einer Reise nochmals hierher zurück Kai Uwe Scholz