Alles ist im Vordergrund

Kulturstudie, Bilderbuch, Hypertext: Marshall McLuhans Frühwerk „Die mechanische Braut“ endlich in deutscher Übersetzung  ■ Von Malte Oberschelp

Heutzutage zu behaupten, Werbung sei das eigentliche Gesellschaftsbarometer, ist längst ein jederzeit cocktailpartykompatibler Gemeinplatz. Zu offensichtlich ist inzwischen, daß der Werbeblock um 19.55 Uhr durchaus mehr zur Lage der Nation aussagen kann als die anschließende „Tagesschau“. Das war nicht immer so: Als ein kanadischer Literaturwissenschaftler namens Herbert Marshall McLuhan Mitte der 40er Jahre mit einer ähnlichen These bei einer Reihe von Verlagen vorstellig wurde, stieß er auf wenig Entgegenkommen. „Das letzte, was man freiwillig veröffentlichen würde“, so die seinerzeit zuständige Lektorin, sei McLuhans Manuskript aus Anzeigenschnipseln und Kommentaren gewesen. Erst 1951 konnte das Buchprojekt unter dem Titel „The Mechanical Bride“ erscheinen und blieb, selbst nachdem sein Autor in den 60er Jahren zum weltweit umstrittenen Popstar der Medientheorie geworden war, weitgehend unbeachtet.

Zu Unrecht, wie die deutsche Erstausgabe des Buches beweist. McLuhans Reklame-Analysen haben mehr als 40 Jahre nach ihrer Entstehung kaum an Prägnanz eingebüßt. Wenn er beschreibt, wie die Werbung für Strümpfe und Hüfthalter den weiblichen Körper als ein Ersatzteillager darstellt, wie die Fahrzeugindustrie das Auto sexualisiert oder wie die Schlagzeilen der Boulevardpresse den Psychohaushalt des Lesers anfixen, läßt sich daraus auch 1996 noch einiges lernen. Das mag Beleg dafür sein, wie wenig sich bis heute an den Methoden der Industrie geändert hat. Zugleich verweist diese Aktualität McLuhans aber darauf, welch großer Nachholbedarf speziell im deutschen Sprachraum an dieser Form von Cultural Studies besteht.

„Volkskultur des industriellen Menschen“ lautet der Untertitel des Buches: McLuhan begreift Reklame als Äußerungen einer Gesellschaftsverfassung, in der Werbeagenturen – halb antizipierend, halb manipulierend – die kollektiven Träume der Menschen ausagieren. Sieht man von seinem erfrischend sarkastischen Humor ab, befindet sich McLuhan damit ideologisch in größerer Nähe zu Traditionen der Kritischen Theorie als zu den Positionen seiner späteren Bücher. Er, der ab 1962 die elektronischen Medien als belebende Körperausweitungen und Erlösung von den mechanistischen Zwängen der Gutenberg-Galaxis preisen sollte, nimmt 1951 noch die Rolle des Warnenden ein, der medientheoretisch mit Begriffen wie Täuschung oder verborgener Bedeutung operiert und den Menschen die gefährlichen Botschaften der Reklameflut bewußt machen will.

Allerdings, und das ist vielleicht das eigentlich Interessante an „Die mechanische Braut“, wird dieser aufklärerische Impetus permanent von der Form des Buches unterlaufen. Insofern nimmt McLuhan schon in seinem ersten Buch die revolutionäre Erkenntnis seiner späteren Karriere vorweg: daß nicht der Inhalt, sondern die Struktur eines Mediums die entscheidende Wirkung erziele („The Medium is the Message“). Den Abschnitten des Buches sind zum Beispiel einige Fragen vorangestellt, die sich auf die jeweils großformatig abgebildete Anzeige beziehen. McLuhan spielt dabei mit den dargestellten Sujets und verfremdet sie ironisch („Hat sich schon jemals ein Wissenschaftler oder Industrieller durch das Trinken von Whisky hervorgetan?“). Das Buch wird so gleich auf mehreren Ebenen lesbar: Bilder, Fragen und Texte ergänzen sich und produzieren ein neues Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Da wird von Wilhelm Reich über Superman, Sherlock Holmes, Werner Sombart oder Abraham Lincoln alles mit allem verknüpft, und so gerät „Die mechanische Braut“ zu einer Art Hypertext der 50er Jahre. Ein Buch, dessen Lektüre bereits Wahrnehmungsstrukturen des elektronischen Zeitalters voraussetzt.

Dazu trägt auch McLuhans Schreibweise bei, die ihn zeitlebens dem Vorwurf der sogenannten Unwissenschaftlichkeit aussetzte: sprunghaft, mosaikartig, Netze knüpfend statt „sauber“ argumentierend. Wenn McLuhan über Wurlitzer-Musicboxen schreibt, kommt er beispielsweise zu folgender „Schlußfolgerung“: „Es gibt keine zurückgezogenen und bequemen Perspektiven mehr, weder künstlerisch noch national. Alles ist im Vordergrund anwesend. Diese Tatsache wird gleichermaßen in der zeitgenössischen Physik, im Jazz, in der Presse und in der Psychoanalyse betont.“ Punkt, aus, keine weiteren Erklärungen.

Drei Seiten zuvor, 17 Seiten danach mag sich der eine oder andere Halbsatz finden, der diese kühne These stützt, doch im unmittelbaren Leseprozeß ist der Rezipient permanent gefordert, sich seinen eigenen Reim zu machen. „Wegen seines kreisenden Blickpunktes muß das Buch in keiner bestimmten Reihenfolge gelesen werden“, heißt es deshalb auch im Vorwort. Linearität, Kausalität, allwissender Autor – „Die mechanische Braut“ dekonstruiert die Parameter der Gutenberg-Galaxis bereits, ohne den „Gegner“ bei diesem Namen zu nennen.

Daß sein erstes Buch erst jetzt übersetzt vorliegt, veranschaulicht zu guter Letzt die deutsche Rezeptionsgeschichte McLuhans. Wo Medientheorie oft genug zur Unterabteilung des Jugendschutzes geriet, weil immer nur auf pädagogisch richtige oder falsche Bilder gestarrt wurde, hatte ein Denker wie er es stets schwer – McLuhan interessierte, daß der Fernseher läuft, nicht, was er zeigt. Erst lange nach seinem Tod im Jahr 1980, oft genug außerhalb des akademischen Diskurses oder über den Umweg Postmoderne, wurde der Kanadier als wichtiger Denker wahrgenommen. Daß sein erstes Buch nun in einer editorischen Sorgfalt vorliegt, die den erhältlichen deutschen Ausgaben seiner Hauptwerke „Die Gutenberg-Galaxis“ und „Die magischen Kanäle“ nach wie vor abgeht, ist erfreulich. Und daß es auch noch im Verlag der Kunst erscheint, hätte vermutlich selbst den Autor amüsiert.

Marshall McLuhan: „Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen“. Aus dem Amerikanischen von Rainer Hötschl, Jürgen Reuß, Fritz Böhler, Martin Baltes. Verlag der Kunst, Dresden, 254 Seiten, 48DM