Mit Kant und Marx im Kopf – subversiv leben

■ Johannes Agnolis Mutmacher-Vorlesungen für die „Periode des Überwinterns“

1967 erschien „Die Transformation der Demokratie“ von Johannes Agnoli und Peter Brückner. Das Traktat setzte auf eine radikaldemokratische, antiautoritäre Erneuerung und traf damit den Nerv der Zeit. Mit einem Schlag wurden die Autoren bekannt, weil die Protestbewegung der 68er in dem Buch einen ihrer Grundtexte sah. Agnoli, der seither am Berliner Otto-Suhr-Institut Politologie lehrte, blieb der oppositionellen Orientierung auch nach dem Ende der Studentenbewegung treu.

Das gilt auch für sein neues Buch, eine Vorlesung, die er 1989/90, kurz vor seiner Emeritierung, an der Freien Universität hielt. Noch einmal versammelt er die zentralen Motive seines Denkens und gruppiert sie um den Begriff der Subversion. „subvertere“ heißt umstülpen; die Subversion greift das Bestehende an, indem sie oppositionelle Tendenzen begründet. Agnoli hat dabei weniger die handfesten Revolutionen und Rebellionen im Auge als vielmehr jene Umwälzungen im Denken, die in das Vorfeld jeder Revolution gehören: „Die Subversion findet statt, wenn die Situation nicht revolutionär ist.“

Auch heute fehlt die revolutionäre Situation. Agnolis Projekt wird somit zur Suche nach einem tragfähigen radikaldemokratischen Standpunkt für die angebrochene „Periode des Überwinterns“. In diesem Sinne soll die Vorlesung selbst subversiv wirken.

Die „Subversive Theorie“ entwirft Agnoli in einem Gang durch die Philosophiegeschichte, der bei den mythischen Anfängen beginnt und bis ins 19. Jahrhundert reicht. Doch wer nun eine öde Auflistung einander ablösender Epochen erwartet, wird positiv überrascht werden. Agnoli bettet die Neuerungen im Denken in die konkreten historischen Situationen ein. Geistesinhalte erscheinen plötzlich als Kampfplätze gesellschaftlicher Konflikte. Hinzu kommt Agnolis Fähigkeit, plastisch und verständlich zu schreiben. Zu wünschen wäre der Vorlesung deshalb, daß sie auch als eine etwas andere Einführung in die Geschichte der Philosophie Verbreitung fände.

Die Subversion verfährt destruktiv, negiert das Bestehende, ist négation sans phrase, doch bleibt sie immer dem utopischen Ziel der Emanzipation verbunden. Sie steht auf der Seite des Widerstandes, wendet sich gegen jede bestehende Ordnung, die nicht die Assoziation der Freien und Gleichen anstrebt. Nicht Kants, sondern Marxens kategorischer Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, dient Agnoli zur inhaltlichen Ausrichtung der Subversion.

Und so berichtet er davon, wie die griechischen Stadtstaaten erstmals die Gleichheit der Freien einführten, ohne daß dadurch schon alle Freie gewesen wäre. Agnoli differenziert: Während die Athener, allen voran Platon und Aristoteles, Frauen und Sklaven von der politischen Einflußnahme ausschlossen, gab es in Sparta Tendenzen zur Gleichstellung der Frauen. Je konkreter Agnoli eine Situation beschreibt, desto komplexer werden die Verwerfungen von herrschaftsstützenden und subversiven Linien. Doch er belebt die trockensten Gegenstände: den griechischen Schulenwirrwarr von den Vorsokratikern bis zu den Kynikern, die kirchlichen Konzile und die Verwicklungen an frühneuzeitlichen Höfen. In seiner Anschaulichkeit liegt die eigentliche Stärke des Buches.

Seine Schwäche resultiert paradoxerweise aus Agnolis sympathischer Parteinahme für die Opposition. Indem er die unterschiedlichsten geschichtlichen Situationen auf den gemeinsamen Nenner der Subversion bringt, gerät ihm diese zum Prinzip. Sie wird abstrakt und dient als Sammelbecken, in das fast alles einfließen kann. Der Begriff bleibt unscharf, weil Agnoli wegen der Vielzahl der konkret-geschichtlichen Übergänge das Verhältnis von theoretischer Subversion und subversivem Handeln nicht feststellen kann. Hinzu kommt seine verwirrende These, nach der Französischen Revolution sei das Zeitalter der Subversion zu Ende und in jenes der Revolutionen übergegangen.

Eindeutig und überzeugend fällt demgegenüber Agnolis Handlungsanweisung für die Zeit nach den gescheiterten Revolutionen aus – für unsere Zeit also: „In der anbrechenden Kälte der neuen Weltordnung müßte sich die subversive Theorie ihre geschichtliche Aufgabe aufs neue aneignen, die darin besteht, immer dann das ganz Andere zu vergegenwärtigen, wenn die Aktualität der Revolution bis auf weiteres suspendiert worden ist. Dann ist die Zeit nicht so sehr der subversiven Aktion als der subversiven Theorie.“ Sven Kramer

Johannes Agnoli: „Subversive Theorie. ,Die Sache selbst‘ und ihre Geschichte“. Ça Ira Verlag, Freiburg 1996, 228 S., 30 DM