Fußball fliegt über die Mauer

Der Wiesbadener Gefangenensportverein SG Theodor Fliedner kickt in der hessischen Betriebssportliga. Meist gewinnt das Team – es hat nur Heimspiele  ■ Von Achim Dreis

Wiesbaden (taz) – „Die müssen sich bewegen“, sagt Erwin Müller. „Wir können sie nicht nur wegschließen.“ Müller ist Sportübungsleiter in der Wiesbadener Jugendvollzugsanstalt Holzstraße und animiert Inhaftierte zum Sporttreiben. Er erfüllt damit ein Bedürfnis. „Das einzig Gute hier“, sagt ein junger Mann beim Gang in die Zelle, „ist der Sport.“

Erwin Müller (55), kantiger Kopf und graue Haare, ist Trainer und Vorsitzender des 1981 gegründeten Gefangenensportvereins „SG Theodor Fliedner“. Fast alle der 300 Inhaftierten sind bei einer Mark Beitrag im Monat Mitglied. Der Verein ist benannt nach einem Düsseldorfer Pfarrer, der sich im 19.Jahrhundert um Gefangene kümmerte. Er bietet ihnen neben täglichen Sportstunden auch Kontakte zur Außenwelt. So besteht mit einer Schule eine Kooperation für gemeinsamen Basketballunterricht. Handball- und Tischtennisteams der JVA treten in Meisterschaftsrunden an. Die Fußballer gehören dem Hessischen Betriebssportverband (BSV) an. Darauf ist Müller besonders stolz: „Es ist einmalig in Deutschland, daß da eine Gefangenenmannschaft mitspielt.“

Ende der achtziger Jahre hatte sie der BSV-Bezirk Wiesbaden probehalber aufgenommen. Zwei Jahre kickten die Knastis außer Konkurrenz. Danach wurden sie wegen „guter Führung“ in die Rundenspiele integriert. Mit dem naheliegenden Vorteil, nur Heimspiele austragen zu dürfen. Und mit Erfolg: Man wurde B-Klassen- Meister 1990, Meister der A-Klasse im Jahr danach. Schließlich wurde man 1993 und 1995 sogar zweimal Erster in der Bezirksklasse, der höchsten Stufe des Betriebssports.

Es gab Gegner; nicht nur sportliche. Doch die erhobenen Zeigefinger sind wieder gesunken. Es kam weder zu Ausbrüchen noch zu Übergriffen auf Gäste. „Wir haben keine Probleme mit Theodor Fliedner“, sagt BSV-Pressewart Dietmar Dannemann. Hans Peter Stang, der das Team geschiedsrichtert hat, findet: „Sie benehmen sich gesittet.“

Zum Teil tun sie es notgedrungen. Müller droht jedem mit Sportverbot, der aus der Reihe tanzt: „Das ist für die Jungs schlimmer als draußen 'ne rote Karte.“ Die Fußballspiele finden ohne zusätzliche Bewachung statt. „Wir haben nur Sicherheitsstufe II“, erläutert Anstaltsleiter Gernot Kirchner. Vier Meter hohe Außenmauern lassen dennoch keinen Zweifel über den Ort des Geschehens.

Der schärfste sportliche Rivale von Theodor Fliedner ist ausgerechnet das Team des Bundeskriminalamts. „Angesichts des Gegenpols Polizei – Häftling ist das Klima bei unseren Spielen schon etwas gereizt“, sagt BKA-Oberkommissar Ralf Luckmann. Dennoch befürwortet er das Sportprojekt. „Es ist gut, daß die Gefangenen mitspielen. So kommt ein Stück Normalität hinter die Gefängnismauern.“ Gleichwohl räumt er Vorbehalte ein: „Gegen richtig schwere Jungs würde ich nicht spielen.“

Die Jungs in der JVA Holzstraße sind nicht richtig schwer. Sport genießt in Wiesbaden als Mittel zur Resozialisierung einen hohen Stellenwert. Primäres Lernziel ist das Miteinander. Sportübungsleiter Müller duldet weder Machtgehabe noch Hierarchiebildung. Er fordert, daß seine Leute selbständig Spiele organisieren und sich arrangieren. Geübt wird Anpassen an die Gemeinschaft unter Einhaltung von Regeln – Fußball soll als lebensnahes Rollenspiel taugen.

Auch der Umgang mit Rassenkonflikten gehört dazu. Männer aus 14 Ländern bilden die Fußballgruppe, nur zwei Deutsche sind dabei. Müller paßt auf, „daß keine Länderspiele ausgetragen werden“. Sportler sprechen eine gemeinsame Sprache: Der Ball muß ins Tor. Diesen Grundsatz beherzigen manche auch nach der Haftentlassung. „Ich kann zwei Mannschaften mit Ehemaligen zusammenstellen, die jetzt in Vereinen spielen und nicht negativ auffallen“, sagt Müller.

„Unser Ziel ist es, kriminelle Karrieren in ihrer negativen Dynamik abzubremsen“, formuliert der Anstaltsleiter, „der Sport ist dabei ein wichtiges Standbein.“ Die Inhaftierten arbeiten acht Stunden am Tag. In Schlosserei, Schreinerei, Bäckerei. Für 160 Mark im Monat. Abends um acht werden sie weggeschlossen bis morgens um sechs. Eindrucksvolle Anlagen dokumentieren den Wert, der dem Sport zugemessen wird: dreiteilige Turnhalle, Kunstrasenplatz, Kraftraum. „Einmalig für Hessens Knäste“, weiß Müller. Er glaubt nicht, daß es den Inhaftierten zu gut gehe: „Täglich eine Stunde Sport als Ventil ist kein Luxus.“

Nicht immer traute man dem Sport resozialisierende Wirkung zu. Bis Anfang der siebziger Jahre war Fußball verboten, da es nach Ansicht der Anstaltsleitung ein rohes und vorsätzlich körperverletzendes Spiel sei. Müller, zu jener Zeit noch Vollzugsbediensteter, ließ auf einer Wiese zwischen den Unterkünften dennoch Fußball spielen. Er wurde häufig ermahnt und zu „dienstlichen Äußerungen“ aufgefordert. Erst nach langen Diskussionen konnte er den damaligen Anstaltsleiter überzeugen.

Horst Eckel (64), Fußball-Weltmeister von 1954, schaut als Vertreter der Sepp-Herberger-Stiftung bei feierlichen Anlässen in der Holzstraße vorbei. „Im Sport“, erläutert er den Gefangenen dann, „lernt man Disziplin und Kameradschaft.“ Anschließend geht Eckel auf den Platz, spielt gekonnt mit dem Ball und trifft sogar das Tor. „Gut, der Alte“, raunt es.

Im Endspiel um die Bezirksmeisterschaft unterlagen die Häftlinge heuer dem BKA. Bei einbrechender Dunkelheit sahen die Augen des Gesetzes besser: Die Kriminalisten siegten 7 : 5 im Elfmeterschießen.