Alternativen denken

■ Die Demos in Belgrad, Dayton und der Westen

Wenn es losgeht, wenn die Massen auf die Straßen strömen, stehen die Führer der Opposition meist ratlos auf den improvisierten Tribünen. Ihre Strategie ist allzuoft auf diesen Ernstfall nicht vorbereitet. So sah es jedenfalls Rosa Luxemburg vor fast hundert Jahren.

Für die Führer des serbischen Oppositionsbündnisses Zajedno kommt dieser Tage in Belgrad folgendes hinzu: Sie hatten keine alte Strategie, die sie über Bord werfen konnten, und sie haben keine neue, die den veränderten Verhältnissen angepaßt wäre. 1989 verfügten die Sprecher der demokratischen Revolution in Ostmitteleuropa auch über keinen politischen Plan. Aber sie standen mit ihrer Biographie für die Sehnsucht nach der Wende ein. Das reichte damals. Zajedno reicht es heute nicht. Die soziale Basis von Milošević wankt, aber hält noch. Und die internationale Konstellation ist grundverschieden.

Für die westlichen Mächte war es 1989 kein Problem, auf die Seite der demokratischen Bürgerrechtler zu treten. Denn Michail Gorbatschow hatte der Wende selbst den Weg geebnet. Später übertrugen die westlichen Mächte ihre Stabilitätssehnsucht auf Jelzin. Sie erklärten seine Herrschaft für alternativlos. So gerieten sie in die Boris-Jelzin- Falle.

Bekanntlich ist Slobodan Milošević nicht Gorbatschow, nicht einmal Jelzin. Dennoch sind die westlichen Mächte in Gefahr, den gleichen Fehler zu wiederholen und ausschließlich auf den serbischen Präsidenten als Garanten des Dayton-Abkommens zu setzen. Diese Art von Fetischismus verkennt, daß die Menschen in Serbien – und keineswegs nur die hauptstädtische Intelligenz – heute nicht mehr von den Delirien des Nationalismus geschüttelt sind. Mag das Parteienbündnis Zajedno auch bar jeder Prinzipien und jeder Programmatik sein – soweit es den Frieden und die Annäherung an Rechtsstaat und Demokratie auf seine Fahne geschrieben hat, drückt es Massenstimmungen aus.

Die Garantiemächte von Dayton, die westlichen zumal, müssen sich an den Gedanken gewöhnen, daß die Ablösung von Slobodan Milošević keineswegs gleichbedeutend ist mit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses im ehemaligen Jugoslawien. Christian Semler