Letztes Jahr in Mariánské Lázně

Anton Harant, Antiquar im Kurort Mariánské Lázně (Marienbad), betreibt einen regen Handel mit NS-Devotionalien. Seine Kunden kommen aus deutschen Städten mit Namen, die für ihn schwer auszusprechen sind  ■ Von Marc-Thomas Boch

Es ist stets der gleiche Anblick. Er beobachtet die betagten Deutschen, die den Bäuchen der Reisebusse entsteigen. Da dies immer direkt vor dem Schaufenster seines kleinen Buchladens zu geschehen pflegt, ist er in der Lage, die Gesichter der Besucher genau zu mustern. Sie sind erfüllt von der Erwartung, Erwartetes erfüllt zu sehen. Die Gesichter sind oft freundlich und entspannt. Sie haben die schönen Stadtansichten von Mariánské Lázně im Reiseprospekt studiert und sehen die ihnen erinnerlichen Abbildungen vollauf bestätigt. Die Busse, sie kommen aus Herne, aus Pforzheim oder Görlitz. Sie kommen aus deutschen Städten, deren Namen er mühsam buchstabiert. Anton Harant bläst den Zigarettenrauch durch seine 70jährige Nase. Es sind immer Besucher dabei, die die Hauptstraße hinauf- und hinabblicken, dann jedoch aus den Augenwinkeln heraus die Auslagen seines Geschäfts streifen. Sie treten näher an die Schaufensterscheibe heran und unterhalten sich, stoßen sich gegenseitig an, zeigen auf etwas und nicken mit den Köpfen. Sie kneifen die Augen zusammen und spähen nach bibliophilen Besonderheiten, die sie im hinteren Teil seiner Auslagen vermuten. Anton Harant legt seine Zigarette im muschelförmigen Aschenbecher ab und greift nach seinem Quittungsblock. Gleich wird die Messingglocke über der Tür anschlagen. Die Deutschen werden seinen Laden betreten. Das ist sicher.

Anton Harants Antiquariat liegt an der Hlavni Trida, der Hauptstraße des weltberühmten Kurortes Mariánské Lázně, dem ehemaligen Marienbad. Das Geschäft ist mehr als nur ein Laden, in dem alte Bücher und Zeitungen verkauft werden. An den drei Wänden des zur Straße liegenden vorderen Verkaufsraumes stehen antike Schränke, Bücherregale und Vitrinen. In der Mitte, auf einem wuchtigen Schreibtisch, ist allerhand Altertümliches angehäuft: Keksdosen aus der Jahrhundertwende, Kitschpostkarten aus den letzten Jahren der k.u.k. Monarchie, gußeiserne Bügeleisen, alte Cognacschwenker und eine unübersehbare Fülle an Zeitungen, Zeitschriften und Landkarten, deren Titel, Jahrgänge und territoriale Gültigkeit größtenteils einer Zeit angehören, die jenseits des Geburtsjahres von Anton Harant liegen dürfte. Natürlich gilt das primäre Interesse seiner Kunden den vergilbten Ansichten böhmischer Städte und Gegenden. Natürlich benutzen seine Kunden aus Bayern oder Sachsen weiterhin die deutschen Ortsnamen, wenn sie nach Postkarten aus Eger, Karlsbad oder Aussig fragen. Anton will da seinem Nachbarvolk nichts Falsches unterstellen. Als Antiquar weiß er um die Macht mitteleuropäischer Historie. Gewohnheit ist eben stark und dauerhaft.

Wer seine Schritte nicht gleich in sein Geschäft lenkt, wird dies schon in den nächsten Tagen nachholen, sagt Anton Harant. Als Kurgast verfügt man über Zeit und Muße. Die Besucher belegen vorerst ihre Zimmer im Palace, Bohemia, im Atlantik oder im Excelsior. Die riesigen Renaissancepaläste und Jugendstilvillen des Ortes nehmen ihre Gäste gütig auf. Das Hotelpersonal ist auf böhmische Art freundlich und bestimmt zugleich. Ein Großteil der Hotelzimmer selbst ist in den letzten Jahren restauriert und modernisiert worden. Das Geld hierfür stammt von privaten Investoren. Aber auch die Republik Tschechien hat ihr Staatssäckel für den boomenden Tourismus im Bäderdreieck Karlsbad–Marienbad–Franzensbad geöffnet. Gehämmer, Geklopfe, Handwerker allerorten. Derart intensiv konnte in den letzten 30 Jahren Sozialismus nicht gebaut und gerettet werden.

„Endlich wieder in der alten Heimat“

In einem Gästebucheintrag des benachbarten Kulturhauses „Chopin“ hatte Anton Harant erst kürzlich folgenden Eintrag lesen können: „Endlich wieder in der alten Heimat. Leider noch nicht alles wiederhergestellt. Familie Schreiber aus Erlangen.“ Genau solche Gäste werden ihm ewig ein Problem bereiten. Nicht daß ihm eine gewisse Sehnsucht nach der eigenen Vergangenheit verschlossen bliebe; nicht daß er diese Leute für Revanchisten hielte – aber sie erinnern ihn an seinen Marienbader Volksschullehrer, der, ganz Repräsentant des deutschen Bildungswillens, den „kleinen Tschechen Harant, Anton“ in ähnlichem Ton zu motivieren pflegte. Das war um 1939, ein lang verwehtes Jahr. Oder vielleicht doch nicht? Als diese Leute sechs Jahre später aus Böhmen vertrieben wurden, war die Wut der Tschechen auf sie groß. Von Mitleid mit den Sudetendeutschen konnte nicht die Rede sein nach allem, was geschehen war. Anton Harant mißbilligte die Entscheidung Václav Havels, sich bei den Deutschen für die Vertreibung offiziell zu entschuldigen. Er mag Havel wirklich (Kettenraucher müssen schließlich zusammenhalten), doch warum kommen diese Leute nach 50 Jahren und tun immer noch so, als habe man sie persönlich bestohlen? Die meisten von ihnen waren jünger als er selbst, als all das passierte. Sehr viel jünger. Das sind keine Heimatvertriebenen mehr, meint Anton Harant, das sind satte Menschen, denen man Jahrzehnte glücklichen Lebens ansehen kann. Nostalgie vielleicht, Romantik auch. Marienbad. Heimat. Hier bin ich geboren, hier bin ich zu Hause. Da, wo die gelben Blätter fallen. Harant schüttelt mißbilligend seinen Kopf.

Die Messingglocke des Ladens schlägt jetzt an. Wieder ist ein Bus gekommen. Wieder begrüßen ihn die Besucher mit einem „Guten Tag“. Zielgerichtet steuern sie auf die Bücherregale zu, blättern in alten Romanen, in Enzyklopädien und in schweren Atlanten. Manchmal, wenn ein Besucher einen Band wie „Unsere Wölfe im Atlantik“ länger in den Händen hält, erhebt sich Anton Harant aus seinem schweren Stuhl und verläßt seine Zigarette im Aschenbecher. Er nähert sich dem Kunden und stellt ihm unumwunden die Frage: „Sie suchen Naziliteratur?“ Läßt dann der Herr (nie war es eine Dame) ein gewisses Interesse erkennen, geleitet er ihn persönlich zum hinteren Verkaufsraum seines Geschäftes. Hier befindet sich, neben einer kleinen Galerie mit zeitgenössischen Werken Marienbader Maler, ein Schränkchen mit vergilbten Hinterlassenschaften: Alfred Rosenbergs „Mythos des 20. Jahrhunderts“, in Schweinsleder gebunden, Originalausgaben des Völkischen Beobachters, diverse Fronterlebnisberichte und Feldtagebücher sudetendeutscher Wehrmachtsangehöriger. Der „Schrein des Dritten Reiches“, wie Anton Harant das Möbelstück spöttisch nennt. Doch sind es weniger die gedruckten Dinge, die die Kunden zum schließlichen Kauf animieren, als vielmehr die Stempel, die als schwarze oder blaue Insignien Authentizität verleihen: NS-Frauenschaft, Ortsgruppe Marienbad I; SS-Kameradschaftsbibliothek – Gau Sudetenland, NSKK – Ortsgruppe Karlsbad.

Äußerst profitable braune Konkursmasse

Anton Harant besitzt eine recht ansehnliche Sammlung solcher Dokumente. Vor drei Jahren nämlich mußte sein größter Konkurrent Konkurs anmelden. Der Trödler in der Chebsker Straße 186 hatte dem Leeren von Obstschnäpsen mehr Zeit gewidmet als seinem ohnehin vernachlässigten Lagerbestand. So war Anton Harant also zu František Svermy gegangen und hatte diesen in einer verständlicherweise deprimierten Gemütslage angetroffen. Svermy versuchte von Anfang an, um die attraktiveren Posten seines Trödels zu feilschen: Anton Harant kaufte schließlich einige Plattenkameras mit Blasebalg und die besagten Stapel NS-Literatur dazu. Zu überhöhten Preisen, wie er später einschätzen wird. Es ist ihm peinlich, wenn er heute auf František, seinen ehemaligen Konkurrenten, trifft. Dieser wohnt jetzt in einem ziemlich heruntergekommenen Haus, dessen ehemaliger Name „Pretoria“ blaßblau unter einer Schicht barockgelber Farbe dahinblättert. Svermy hat die ewige Larmoyanz und das stetige Selbstmitleid des Trinkers verinnerlicht. Er erkundigt sich noch immer nach dem Gang des Harantschen Geschäfts, nicht ohne jedoch die Anklage des Verlierers gegen seinen Profiteur anklingen zu lassen. Drei Jahre ist es also her, da begann Anton Harants Quittungsblock mit Hilfe von Svermys Konkursmasse schwarze Zahlen zu schreiben. Die gestempelten Sachen verkauften sich schnell, und bald nahm die Nachfrage nach seriöserer Literatur wieder zu. Heute veräußert Anton Harant Brockhaus- oder Meyers Nachschlagewerke gewinnbringender als je zuvor. Er ist froh darüber. Die wirklich teuren Bücher stehen zwar eine recht lange Zeit hinter Glas, aber es kommt der Augenblick, da der richtige Liebhaber, der sagenhafte Bibliophile, zur Tür hereintritt.

Jüngsthin verkaufte er so Mary E. Townsends „The Rise And Fall Of The German Colonial Empire“, amerikanische Erstausgabe von 1932, für umgerechnet 350 Mark. Leider sah er sich nicht imstande, ein ausführliches Gespräch mit dem Herrn mittleren Alters zu beginnen, da sich dieser offensichtlich größter Zurückhaltung befleißigte. Er sah ihn später zufällig wieder, wie er in ein Auto mit Grazer Kennzeichen stieg.

Anton Harant raucht, solange er allein mit sich und nicht mit seinem jüngeren Teilhaber im Laden ist. Der Zigarettenrauch müßte sich eigentlich störend auf die Besucher auswirken. Aber irgendwie verschwindet der Dunst in die Höhe des Raumes. Draußen, hinter dem Denkmal für die amerikanischen Soldaten, die Marienbad erst am 6.Mai 1945 befreiten, zeigen sich die Blätter der Kastanien in einem seltenen Burgunderrot. Die Kurgäste flanieren weiter oben, am Goethepark, indem sie im Schlendern die Wasser der verschiedenen Heilbrunnen aus eben gekauften Schnabeltassen schlürfen. Gegen die Altersbeschwerden, gegen Nieren- und Blasenleiden helfen die Salze und Mineralien der Ambrosius-, Rudolfs- oder Ferdinandsquelle. Und wenigstens hier sehen sich die Massen der deutschen Pensionäre, ob ehemalige Marienbader oder nicht, therapeutisch vereint mit ihren tschechischen Nachbarn. Auch 50 Jahre nach Kriegsende, auch runde 170 Jahre nach der Ernennung Marienbads zum Kurort kommen Bayern, Böhmen, Sachsen, Schwaben, Slowaken oder Kärntner hierher, um sich der Wirkung des „Aqua Maria“, des Marienbader Wunderwassers, zu versichern.

Anton Harant, der in seinem Laden an der Hlavni Trida noch einen Reisebus abwartet, hält nichts davon. Zu Hause angekommen, schaltet er den Fernseher ein und holt sich sein abendliches Bier aus dem Kühlschrank.