Immer weiter im Text

65 und noch immer Kommunist: Franz Josef Degenhardt hofft darauf, daß „die Kurse und Masken fallen“. Sind Zwischentöne auch heute nichts als Krampf im Klassenkampf?  ■ Von Markus Heidingsfelder

Ein Band mitlaufen zu lassen, hat er sich verbeten – „ich mag das nicht“. Also habe ich die empfangenen Eindrücke nicht frischweg niedergeschrieben, sondern ein paar Tage damit gewartet. Auf daß das Kleinliche sich verliere und nur das Bedeutende zurückbleibe. Leider habe ich dann das Bedeutende vergessen und nur das Kleinliche behalten. Daß er wirklich der schwarze Mann ist zum Beispiel: Degenhardt kleidet sich am liebsten nachtfarben. Daß vor ihm auf dem Glastisch ein Tellerchen mit Guglhupf stand. Daß er ihn gegessen hat. Daß er einmal, um das Gesagte zu unterstreichen, vorsichtig einen Akzent auf meine Hand hintupfte.

Väterchen Franz macht Schluß

„Lieder, wie ich sie mache, hat es doch zu allen Zeiten gegeben, gerade in Deutschland haben wir eine gute und alte Tradition solcher Songs, Walther von der Vogelweide, Paul Gerhardt, Georg Herwegh, Hoffmann von Fallersleben, Ernst Busch und so weiter, immer haben solche Lieder die Bewegungen begleitet, und heute, in der Neuzeit, in unserer audiovisuellen Ära, in der New Generation, hat man das halt wieder getickt. Vor allem aber vermittelt dieses neue Vortragslied, wie ich es mache, ähnlich wie Songs der Rockmusik oder des Jazz, Authentizität, eine Unmittelbarkeit und was Begreifliches, anstelle dieser zynisch- infantilen Sprechblasenbelletristik oder der immer raffinierter werdenden Hochliteratur und anstelle der immer kindischer tönenden U-, immer pompöser klingenden E-Musik.“

Das hört sich zwar nach Degenhardt an. Gesagt hat er, der am kommenden Dienstag 65 wird, es allerdings nicht. Das läßt er sagen in dem 1982 erschienenen Roman „Der Liedermacher“ (steht da aber nicht in Ich-Form). Degenhardt macht sich gern zum Dritten, auch das verbindet ihn mit Peter Weiss. Außerdem haben beide vom Südwestfunk einen Preis bekommen, Degenhardt 1995 den SWF-Liederpreis, Weiss den SWF-Kritikerpreis für „Die Ästhetik des Widerstands“.

Im „Liedermacher“ teilt der Ausgezeichnete sich in Sade und Marat, in den liederlichen Piet Atten und seinen Roadie Manne. „Kaprizieren Sie sich ja nicht darauf, daß ich das bin, dieser Liedermacher“, hatte er mich gewarnt. Nein, natürlich ist er das nicht, ein opportunistischer Widerling und Zyniker und Kornsäufer, der sich in Talkshows zum Affen macht und schließlich seine Chansons sogar auf Wahlkampfveranstaltungen zum besten gibt, sich über seine Schusterharmonien lustig machend, immer nur die einfache Kadenz, 1, 2, 5, Zweiermetrum, damit man dazu marschieren kann. Tatsächlich gleicht Degenhardt eher dem braven Manne, der nicht wankt und nicht schwankt, der sie einfach nicht wahrhaben will, die Verknotungen und wuchernden Gewächse in uns: „Überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, das ist Mannes Konterstrategie.“

Zum ersten Mal wich das Ich dem Er in „Der, der meine Lieder singt“. Was Weiss in seinem Text „Duell“ vollzog, die Eroberung des dritten Standpunkts, um auf den Konflikt Individualismus/Sozialismus, Nährboden für vielerlei Sporen, von außen draufzuschauen, gelingt ihm jedoch erst in „Väterchen Franz“. Darin bittet er sich selbst um ein Abendständchen, um schließlich festzustellen, daß sich die furchtbare Wirklichkeit nicht mehr zur Form sublimieren läßt. „Kunst ist doch Genuß!“ unterbricht er sich selbst. „Na gut, Väterchen Franz macht Schluß!“

Und dann ist wirklich Schluß, das Lied mit einem Mal aus. Der neue Degenhardt will nicht mehr auf beiden Seiten stehn, einer innern Erregung folgen – sondern nur noch einem übergeordneten Ziel: der Abschaffung von Geld und Ware, der Errichtung einer Bedürfnis- und Gebrauchswertökonomie.

Baenkelsongs auf der Laute von damals

Das war nicht immer so, wie gesagt. Es war einmal, da wollte er Weintrinker sein: Nicht in einem fort der Wirklichkeit die Stirn bieten, sondern auch mal in ihr aufgehen. Von einem kleinen Dorf in Frankreich träumen, nach Mädchen gucken, die vorübergehn. If I could settle down, then I would settle down: „Und wenn am Abend so was wie Frieden / scheinheilig- still aufs Land niedersinkt, / und nur noch leise von fernen Straßen / der rollende Lärm bis hierher dringt, / und die paar Freunde, die noch geblieben, / schweigen und trinken aus Flaschen Bier / vielleicht, daß der Mond noch zwischen den Wolken / hervorscheint, und es erklingt ein Klavier:/ die B- Dur von Schubert. Im Rhododendron / schlägt sogar auch noch die Nachtigall, / und die Geliebte legt ihren Kopf / in deinen Schoß, dann denkst du schon mal: / Geht's nicht auch so? So geht es nicht!“ singt er auf seiner aktuellen CD „Weiter im Text“.

Zum einen hat man seiner Frau treu zu sein (und Degenhardt ist seit hundert Jahren verheiratet), zweitens darf man die Genossen nicht im Stich lassen. Eine Nachtigall? Aber die Kurden in der Türkei! Ein leckrer Roter? „Aber die vielen, die kämpften und hofften, / enttäuscht von der Hoffnung, der Wirklichkeit auch / Verletzte aus vielen sinnlosen Schlachten / und solche mit rasender Wut im Bauch“. Da gehören keine in Rotwein geschmorten Rinderwürfel rein und auch keine Gekrösewurst in Petersilienaspik, auch wenn die Franzosen das noch so gut hinkriegen.

Zum einen ist da die Baenkeltradition: erst ein blauer Himmel, dann ein blut'ger Mord; Degenhardt macht es in „Laute von damals“ noch mal vor. Anfangs die Mauersegler, die um Mauern segeln, der Wind in den Apfelbäumen, ein bißchen Spatzengetschilpe, schließlich ein Geräusch, das keines ist: „die Wimpernschlag lange Stille vor diesem ganz endgültigen Knall“. Und gegen diese ohrenbetäubende Detonation – „Mit der haben wir unser Urvertrauen verloren!“ – hat kein Spatz, kein Heidekraut eine Chance.

Zum andern haben nach Degenhardt kleinliche, individuelle Gelüste in einem Kommunisten nichts verloren, auch wenn er sich noch so nach ihnen sehnt. „Was ich in ,Geht's nicht auch so?‘ – peut- être – ausdrücke“, schreibt er mir später, „ist: Genießen (Hedonismus) pur und nur gelingt nicht – für mich. Nicht mal fürn Genuß. Das Ungenießbare klingt und dröhnt immer mit.“

Zwischen null Uhr null und Mitternacht

Geboren wurde Degenhardt im malerischen Städtchen Schwelm, Krst. im Berg, Land NRW, 230 m ü. d. M., 29.500 E., am 3.Dezember 1931. In Freiburg und Köln studiert er Jura, wird später in Saarbrücken wissenschaftlicher Assistent, fängt öffentlich zu singen an, weil er mit dem Geld nicht hinkommt. Gibt 1963 sein „Rundfunkdebüt“, spielt im selben Jahr „Zwischen null Uhr null und Mitternacht, Baenkel-Songs“ (später „Rumpelstilzchen“) ein. „Es sind gesungene Geschichten“, schreibt er in den liner notes sehr manierlich. „Sie haben auch keine Tendenz: Sie sollen nicht attackieren. Sie sollen auch nicht schockieren. Manchmal vielleicht reizen.“

Das Genre schien damals noch klar festlegbar: Baenkel-Songs – eine Mixtur aus Schauer und Parodie. Strophenlieder, die in den Halsspeck gehn. Wohl makaber, aber unterkühlt, friert man vor Gemütlichkeit. Die Mordtat wird zur Moritat, das Ungenießbare zum Genuß: Da ist von ausblutenden Katzen die Rede, Rattenteichen, in denen Schmuddelleichen schwimmen, später Eulen, die an Scheunentore genagelt, Hasenschartenkindern, die mit Napalm bespritzt werden. Schauerlich-Erschröckliches. Und dazwischen immer wieder das Blühen der Flur, Mädchen mit Pflaumenhintern, Haaren wie Tomatensaft.

„Formuliert man langsam und gründlich, so entstehen Gedichte. Trägt man diese dann singend vor, so sind es Lieder. Textdichter und Komponist bin ich weder haupt- noch nebenberuflich. Hauptberuflich schon deshalb nicht, weil mein Tagewerk, dem ich gern nachgehe, anderes verlangt: Ich bin Assessor und wissenschaftlicher Assistent an einem rechtswissenschaftlichen Institut. Nebenberuflich deshalb nicht, weil ich weder Texten, Vertonen noch Singen als meine Nebenberufung oder meinen Nebenjob ansehe. Mir macht das einfach Spaß. Es gefällt mir, so wie mir meine Frau gefällt und meine beiden Kinder und Essen und Trinken, Jazz und vorbarocke Musik, Voltaire und die ,Blechtrommel‘. Man nennt so was heute wohl ,Hobby‘.“

Mit so viel Spaß an der Freud war dann 1968 Schluß. Degenhardt nennt es in „Der Liedermacher“ den wüsten Bruch. „Zwischentöne sind nur Krampf / im Klassenkampf“, verkündet er auf den Essener Songtagen kategorisch. Die „zwischen den Zeilen Widerstand leisten“, die leutescheuen Müßiggänger, werden scharf attackiert. Sich zurückziehen ins Reich Beethovens? Karl Marx einen guten Mann sein lassen? In Flandern am Tresen stehn, durchs Schnapsglas auf die Mole sehn? Nein, so geht es nicht, man muß Partei ergreifen. 1975 veröffentlicht er dann „Mit aufrechtem Gang“. Ein weißes Cover mit schwarzer Schreibmaschinenschrift signalisiert: Hier ist nurmehr Inhalt drin.

Spätfolgen des aufrechten Gangs

Ausgerechnet 1975, als die engagierten Linken sich endgültig von der Weltrevolution ab- und den Bürgerinitiativen zuwandten, die Fahne gegen die Latzhose eintauschten, demonstriert Degenhardt Linientreue – und hat sie bis heute durchgehalten. Nach wie vor ist er in der DKP: stehend harren, halten, dem schnellen Verlieren nicht nachgeben.

Was aber passiert, wenn man in einem fort aufrecht geht, schildert eindrucksvoll Thorwald Detlefsen: Erst blockieren die durchgedrückten Gelenke nur die Bewegungsmöglichkeiten und schränken die Flexibilität ein. Später bekommt man Hexenschuß oder Morbus bechterew: Die Worte werden steif, verkalken, ihr Knistern weicht der nackten Bedeutung. Wenn man Pech hat, stellt sich dann noch die gefürchtete „Apperzeptions-Verweigerung“ ein, eine Hemmung der Wahrnehmung.

A-Dur, B-Dur, Gegenwehr

„Mittags, im Heidekraut / Libellen zittern vorbei / der Star-Fighter erinnert laut, / daß weit hinten in der Türkei / Freunde, Genossen gefoltert verrecken“, singt Degenhardt auf „Im Tiefland“, anno 1994. In Wahrheit fliegen seit Oktober 1987 gar keine Star-Fighter mehr, vielmehr Tornados, Alpha-Jets oder auch hier und da mal eine MiG 23, übernommen aus den Beständen der NVA. Wenn der Gedanke der Wahrnehmung den Takt diktiert, bleibt am Ende: ein Schema.

Wer Belesenheit und Kunstverstand mißachtet, ist gegen das Denken, das weiß Degenhardt, das wußte Weiss. „Es regnete, und sie hockten in Bohrs Schuppen über den Noten“, schreibt er in „Zündschnüre“, der Bullerbü-Version von „Ästhetik des Widerstands“: „Sonate A-Dur, las Tünnemann, Mozart. Er hätte von dem schon mal Musik gehört, auf Geigen, damals in der Friedhofskapelle, als der alte Doktor Strathmann beerdigt wurde und er mit seiner Oma hingehen mußte. Wie sich das angehört hätte, wollte Sugga wissen. Piepsig, sagte Tünnemann, aber Oma gefällt so was. Viehmann meinte, diese ganze Musik von denen, Mozart und wie sie alle hießen, wär sowieso Kappes. Die beiden stritten sich herum, Tünnemann sagte, die Musik ist vielleicht gut, bloß verstehen wir das nicht, weil sie uns das ja nie erklären. Eben, sagte Viehmann, und deshalb geht uns das auch nichts an. Das ist denen ihre Sache. Die machen das doch auch alles bloß für sich und damit unsereins das nicht versteht. Blödsinn, sagte Tünnemann, das müssen wir eben auch lernen.“

Nicht das interesselose Wohlgefallen wohlgemerkt, ein an Veränderung interessiertes! Doch ist eine Ästhetik der Gegenwehr eben auch Ästhetik, nicht nur Gegenwehr. Sie muß in der Lage sein, das Ungenießbare genießbar zu machen: als ein Dagegen, das dafür ist.

Das Spitze wird stumpf werden, das wußte schon Friedrich Engels, das Harte brechen. Bei Degenhardt ist das Harte stumpf geworden und das Spitze gebrochen. Mit den Zwischentönen ist auch die überdeutliche Artikulation verschwunden, sein Manierismus, die Plosive am Wortende gegen den Strich zu bürsten. Schlot wird zu „Schlo“, das t verweht im Nirgendwo, so etwas wäre früher undenkbar gewesen. Statt „Pöter“ und „Exkrement“ und „gnädigen Frauen“ bevorzugt er heuer Vokabeln wie „Arsch“, „Scheiße“, „Tussis“. Wie einst sein Intimfeind, Sangesbruder Biermann, dessen „outrierte Schreie“ er haßt, verwechselt er Entzauberung mit Simplizismus.

„Jene, die meinen härtesten Experimenten applaudiert hatten, jene, denen der Exhibitionismus meiner Verzweiflung gefallen hatte, würden sagen, daß ich jetzt schwächer würde, daß meine Kunst nachließe“, ahnte Weiss in einer Rede, die er 1966 in Princeton hielt. Er hatte, wie später Degenhardt, Melancholie gegen Protest, Wissen gegen Metaphysik, das Besondere gegen das Allgemeine eingetauscht, seinen „dünnen“ Sätzen einen Rahmen zu verleihen. Nur war seine Ästhetik des Widerstands im Grunde reine Ästhetik. Der tapfere Chronist, den Weiss so akribisch alles aufzeichnen läßt, wäre er zwar gern gewesen. War er aber nicht.

Im Gegensatz zu Degenhardt: Der ist, wovon er singt. „Zwei Boxen, tausend Watt, das reicht für alle Säle“, steht in „Der Liedermacher“.

Für die Kongreßhalle in Gießen reicht es erst recht, wo Vater und Sohn Degenhardt vor kurzem auftraten. Eine zweite Gitarre ist dazugekommen, gespielt von Kai, der im Gegensatz zum Vater ein Fußbänkchen vor sich stehen hat. Das Spröde, Stoische der Vatergitarre, das quicklebendige, sprudelnde, geschmeidige Spiel des Sohns bilden einen merkwürdigen Kontrast. Im Saal etwa zweihundert, dreihundert Leute auf Stühlen, die meisten mit Bärten. Eine leise Solidarität liegt in der Luft.

Fahrende Sänger in Gießen vor Ort

„Der Liedermacher Piet Atten in Handschellen abgeführt“, träumt Degenhardt in seinem Buch von besseren Zeiten: „Fahrende Sänger übermitteln die Anweisungen der Terroristen von Ort zu Ort.“ Davon ist er natürlich heute entfernter denn je, das weiß er selbst. Die Linke ist unpäßlich. Und gerade darum läßt Degenhardt die lyrischen Sachen alle weg: Hier und heute wird agitiert. Es geht ja immer weiter im Text. Endlich bleibt nicht ewig aus, endlich ist endlich genug, dann ist Schluß mit Sklaverei, alle werden frei. Wann? Wenn hinterm Mond ein Stern zerplatzt ist, dann. „Vielleicht gibt es ja morgen schon den Crash, / daß die Kurse und Masken fallen.“

Zwei Liebende kuscheln, ihre Augen glänzen, als Degenhardt „Am Fluß“ singt: „Haben sie / den nun schon länger als 200 Jahre / dauernden Krieg gewonnen / die Herrschaften? / Oder nur eine Schlacht? / Eine große zwar / eine sehr große sogar / – aber die letzte Schlacht?“ Und wenn man die Augen schließt und sich vorstellt, man sei tatsächlich ein echter Kommunist, dann funktioniert es plötzlich. Man ballt die Faust und geht gerüstet: eine Optik in allen Werten, festeste Festigkeit. Man läßt sich die eigene Unbeugsamkeit auf der Zunge zergehen. Sieh mal einer an – so geht es auch.