■ Daß uns die Arbeit ausgeht, war in den 80ern Anlaß kühner Freiheitsträume. Heute bedeutet es nur noch Krise
: Plädoyer für eine Politik der Muße

Ob wir denn arbeiten, um zu leben, oder leben, um zu arbeiten, war einmal eine gute Frage vergangener Tage. Heute, im Zeitalter der Haushaltsdefizite, Deckungslücken, Milliardenlöcher und Finanzkrisen, liegen die Dinge etwas komplizierter: Müssen wir arbeiten, damit der Staat Geld hat, oder muß der Staat Geld ausgeben, damit wir arbeiten müssen?

Unsere Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, steckt im finanziellen Dauerstreß. Je mehr Arbeitsplätze abgebaut werden, desto knapper wird der finanzielle Spielraum des Staates und desto größer und verzweifelter der Aufwand, der betrieben wird, um die Bürger wieder „in Arbeit“ zu bringen. Die heiß umkämpften „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ sind ja noch eine der harmloseren Methoden des Staates, das von seinen Bürgern erarbeitete Geld auszugeben, damit diese noch mehr arbeiten – können (dürfen? müssen?).

So richtig kostspielig wird die Politik der Arbeit um jeden Preis bei milliardenschweren Subventionen an Großunternehmen, bei teuren Infrastrukturprojekten oder bei der Finanzierung bürokratischer Apparate, die Arbeitslose kontrollieren, „Zumutbarkeits“- Bedingungen durchsetzen und Sozialhilfeempfänger zu „Gemeinschaftsarbeiten“ zwingen.

Geht es nicht ein bißchen billiger? Könnten wir nicht besser leben, wenn wir nicht so viel Aufwand treiben würden, um „Arbeit zu schaffen“ und uns statt dessen mehr um die Freiräume kümmern würden, die sich jenseits der Erwerbsarbeit auftun? Wäre es nicht viel sinnvoller, an einem neuen Modell des Sozialstaates zu arbeiten, das sich nicht mehr ausschließlich an der Erwerbsarbeit orientiert?

An die Krise der Arbeitsgesellschaft knüpfte sich in den achtziger Jahren einmal die Hoffnung, daß die Erwerbsarbeit ihre zentrale Rolle im Leben des einzelnen und der Gesellschaft verlieren würde. Heute erleben wir das genaue Gegenteil. Die Erwerbsarbeit wurde – je knapper, desto begehrter – zum kostbarsten aller Güter und zum absoluten Wert. Die Gesellschaft ist wie nie zuvor bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen. Sie ist bereit, ihre politischen und moralischen Grundlagen in Frage zu stellen, um „Arbeit zu schaffen“.

Auch Arbeitnehmer sind heute wieder willig, mehr zu arbeiten. Der Wunsch, länger arbeiten zu können, hat bei Umfragen inzwischen sogar mehr Anhänger als das Ziel weiterer Arbeitszeitverkürzung. „Mehr Freizeit“ wird zunehmend als Synonym für „mehr Armut“ empfunden. War das Ende der Arbeitsgesellschaft also nur eine versponnene Utopie?

Immerhin ist das Bürgertum selbst einmal mit der Verheißung angetreten, durch die Entwicklung der Produktivkräfte die Grundlagen für mehr Freiheit zu schaffen. Adam Smith, der Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften, dachte, daß „die Seele mehr Freiheit hat“, wenn der Mensch nicht mehr soviel Energie in lebensnotwendige Arbeit stecken muß. Daß die „Seele“ mit dieser Freiheit dann auch tatsächlich etwas anfangen kann, schien lange Zeit selbstverständlich.

Hannah Arendt war es, die darauf aufmerksam machte, daß „diese Gesellschaft kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten kennt, um deretwillen die Befreiung sich lohnen würde“. Diese „höheren und sinnvolleren Tätigkeiten“ waren früher einmal ein Privileg der leisure class, der müßigen Klasse, und sie standen im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens: tätige Muße, freie, selbstzweckhafte Tätigkeit, lernen und lehren, denken und dichten, philosophieren und debattieren, Politik und Wissenschaft. Ein großer Teil unserer Zivilisation, unserer politischen, kulturellen und philosophischen Traditionen wurde von Müßigen hervorgebracht und entwickelt.

Erst in der Arbeitsgesellschaft wurde die Arbeit zur einzig „produktiven“ Art, sein Leben zu leben. Damit verschwand die Muße aus dem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. Sie wurde privat. Und als „privates Vergnügen“ wurde die Muße zum gesellschaftlichen Nichts. Es gibt heute keinen gesellschaftlichen Raum, in dem der Freiheitsgewinn, den die Entwicklung der wirtschaftlichen Produktivität bereit hält, positiv umgesetzt werden kann. Deshalb kann das Schwinden der Erwerbsarbeit nur als existentielle Bedrohung erfahren werden.

Die Krise der Arbeitsgesellschaft stellt uns also vor die Aufgabe, eine Politik der Muße als kreatives und produktives Gegenüber der Arbeit zu gestalten, die Muße als gesellschaftliche Tätigkeit wieder instandzusetzen. Wie könnte so etwas aussehen? Ich stelle mir das so vor:

Die Gesellschaft organisiert neben dem Sektor der Erwerbsarbeit einen Tätigkeitssektor. In Städten und Gemeinden werden Tätigkeitszentren aufgebaut, deren Aufgabe es ist, die freie Tätigkeit zu organisieren. Hier hat jeder die Möglichkeit, eigene Projekte zu verwirklichen oder in bestehenden Projekten, Vereinen oder Organisationen mitzuarbeiten. Die Tätigkeiten müssen nicht zwingend als „gesellschaftlich sinnvoll“ anerkannt sein (denn wann weiß eine Gesellschaft schon, was für sie sinnvoll ist?). Sie müssen lediglich für die Tätigen (Müßigen) selbst sinnvoll und im Ergebnis überprüfbar sein.

Diese Tätigkeiten werden nicht bezahlt, denn sie sind ja keine Erwerbsarbeit. Also muß eine andere Form gefunden werden, die Tätigen materiell abzusichern. Das könnte so aussehen, daß der Tätigkeitssektor in das System der sozialen Sicherung integriert wird. Die freie Tätigkeit würde dann in gleicher Weise Ansprüche auf Versicherungsleistungen begründen wie Erwerbsarbeit, zum Beispiel Ansprüche auf Arbeitslosengeld, Krankengeld und Rente. Das würde auch die Kombination mit Teilzeitarbeit begünstigen.

Jeder hätte hier die Möglichkeit, in seinem Interessengebiet tätig zu werden, aber auch, etwas ganz Neues auszuprobieren. Der Tätigkeitssektor wäre ein Experimentierfeld für soziale Innovation. Der Sozialstaat wäre auf neue Grundlagen gestellt: Er würde sich auf soziale Bürgerrechte gründen, auf das Recht auf Partizipation, sinnvolle Tätigkeit und auf materielle Sicherung; und er würde nicht nur von den finanziellen Abgaben, sondern auch von der Energie, Kreativität und Phantasie seiner Bürger profitieren, von ihrer Fähigkeit, an die Stelle einer immer kostspieligeren staatlichen Verwaltung sozialer Probleme gesellschaftliches Handeln und Initiative zu setzen. Die Kosten dieser Reform würden dadurch wahrscheinlich mehr als wettgemacht. Gabriela Simon