Die Stellvertreterstadt

Städte im Film (V): In Toronto finden Sie, was Sie brauchen: Genf, Tokio, Stuttgart. Längst hat sich der Bürger daran gewöhnt, wegen ständiger Filmarbeiten in Schleifen nach Hause zu fahren  ■ Von Ute Lehrer

Septembernachmittag in Toronto. Sonnenstrahlen en masse fallen platt auf die Spiegelfassaden der Bürotürme, springen zurück und finden sich schließlich mitten im Gewusel auf der Bay Street. Je nachdem, wie kulturkritisch man gestimmt ist, kann man die Wände für Fassaden halten, die sinistre Geldtransaktionen beherbergen, oder für frohe Filmkulissen.

Das Repertoire an Rollen, das Toronto beherrscht, ist schon frappierend – als hätte es keinen eigenen Charakter, oder alle: Es kann aussehen wie London, wie Genf; europäisch oder asiatisch. Unzählige griechisch-orthodoxe Kirchen, drei Chinatowns, in denen sich die Gemüsekisten auf dem Gehweg stapeln, ein Straßenzug, in dem es nur indische Kleiderläden gibt und in denen es nach Sandelholz riecht; deutsche Bäckereien mit riesigen Brezeln, eine italienische Nachbarschaft, in der das ganze Jahr über ein beleuchteter Stiefel als Weihnachtsschmuck hängt – das alles und noch viel mehr wird in Toronto oft und gern zu Filmgeschichte verarbeitet.

Über den Horrorfilm heißt es, daß seine Schauplätze im Lauf der Kinogeschichte von Europas Osten über den Atlantik in den Westen wanderten, daß sie nirgendwo soviel Raum haben wie in Kanada, wo man die Wildnis und die große Kälte noch von allen Seiten auf sich zukriechen fühlt. Da wundert es einen nicht, wenn die kanadische Filmindustrie jede Menge „Oddballs“, merkwürdige Leute, hervorgebracht hat, die in ihren Arbeiten immer wieder zwischen der niedlichen Puppenstubenhaftigkeit Torontos und dem gespenstischen weiten Land hin und her changieren. Schlockmeister David Cronenberg, der die meisten seiner Filme in Toronto dreht, ist mit seinem letzten Film „Crash“ nun gänzlich in der Stadt angekommen, die sich hier aber düster und endzeitlich präsentiert. Der Film sieht sowohl in den USA als auch in England einem möglichen Bann durch die Zensur entgegen. Cronenberg ist aber schon lange nicht mehr der einzige Filmemacher, der Toronto von seinem Image als Billig-New-York befreien will und an einem eigenständigen Bild der Stadt arbeitet: Atom Egoyan hat es mit seinem Film „Exotica“ ebenso versucht wie Robert Lepage mit seinem komplizierten Gender-Bender- Thriller „Polygraph“. Was Toronto ist, wenn es nicht New York ist, ließ sich aber noch immer nicht so klar eruieren.

Während an allen anderen Branchen die Rezession nagt, hat sich der Umsatz des Filmgeschäfts in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Hinter Los Angeles und New York ist Toronto jetzt die drittgrößte Stadt für Film- und Fernsehproduktionen in Nordamerika. Mit einem jährlichen Produktionsvolumen von 1,2 Milliarden Dollar beschäftigt sie etwa 30.000 Personen.

Daß Toronto plötzlich so attraktiv geworden ist für ausländische Filmteams, hängt mit der steilen Talfahrt des kanadischen Dollar zusammen. „Hier bekommt man dieselbe Menge Film für ein Drittel weniger Geld als in den USA“, erklärt der städtische Filmbeauftragte David Plant. „Was brauchen Sie: top-ausgebildete Schauspielerinnen, modernste Technologie, die Gurus der Tontechniker.“

Hochsaison herrscht jeweils im September, nicht nur des Lichts wegen. Bis zu 40 Filme am Tag! Die Leute haben sich längst an die großen Aufnahmewagen gewöhnt; die 15 Minuten Berühmtheit haben sie sich abgeschminkt. Gelassen umgeht man den gesperrten Seitenstreifen, fährt in großen Achten nach Hause. Nur als letzten Herbst ein Helikopter mitten durch die Bay Street schwebte, blieben die Leute stehen wie in „Independence Day“. Was dabei herauskam, wird im Presseheft einmal „spektakuläre Außenaufnahme aus der Hochhausschlucht“ heißen. Der Film heißt „Fly Away Home“ und erzählt die seltsame Geschichte eines Mädchens, das zum Mutterersatz für Kanadagänse (!) wird und ihnen beibringt, im Winter in den Süden zu migrieren. Weil das hier jedem sofort einleuchtet, wurde der Film gleich in seiner ersten Woche der zweitbeliebteste Nordamerikas.