Grobkörniger Richterspruch

■ Bundesverfassungsgericht verurteilt Mauerschützen

Kann man die Vergangenheit, und das heißt nichts anderes als die Staatlichkeit eines anderen Rechtsgefüges, mit den Mitteln der Justiz aufarbeiten? Das Bundesverfassungsgericht behauptet ja. Es kann sich dabei auf eine Mehrheitsmeinung zumindest der Westdeutschen stützen, die eine juristische Aufarbeitung schon wegen des Versagens im Umgang mit dem Nationalsozialismus begrüßen. Die NS- Schlächter sind fast ausnahmslos ohne Strafe davongekommen. Und vielleicht liegt genau hierin, in dem impliziten Vergleich der DDR-Verbrechen mit denen der Nationalsozialisten, der Fehler. Die NS-Verbrechen waren von einem solchen Ausmaß, daß sich ein Vergleich mit den Taten des DDR-Regimes schlicht verbietet.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner gestrigen Entscheidung nicht zwischen den Machthabern und den Grenzsoldaten unterschieden. Das ist zu kurz gegriffen. Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Grenzsoldaten und jenen, die qua Funktion Einfluß auf das System hatten und es in Gang hielten. Vielleicht ist es mit Blick auf die Machthaber richtig, das Rückwirkungsverbot außer Kraft zu setzen und heute für strafbar zu erklären, was damals nicht strafbar war. Denn die Machthaber konnten selbst Einfluß nehmen auf die Befehlslage und damit auf das, was in dem Staat strafbar und was straffrei sein sollte. Vielleicht muß man sie daher tatsächlich strafrechtlich zur Verantwortung ziehen, quasi so, wie es auch ein internationaler Gerichtshof tun könnte.

Für die Mauerschützen jedoch kann das nicht gelten. Sie hatten auf die Gesetzlichkeit der DDR keinerlei Einfluß. Der Vorwurf, sie hätten wissen müssen, daß das Erschießen von Menschen an einer Grenze gegen Menschenrechte verstößt, greift moralisch, aber nicht juristisch. Sie mußten es eben nicht wissen. Gerade wenn sich die Gerichte heute auf rechtsstaatliche Grundsätze berufen und die Einhaltung von Menschenrechten anmahnen, dürfen sie das Rückwirkungsverbot, selbst Ausdruck der Menschenwürde, in diesem Fall nicht kippen. Gewiß wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Grenzer der Indoktrination entgangen und sie den Befehlen widerstanden hätten. Aber die Tatsache, daß sie keine Helden waren, ist strafrechtlich nicht relevant. Julia Albrecht