Wo versteckt sich das Geheimnis?

Alte Buchläden mußten der „Verblödung auf Westniveau“ (Esterházy) – dem Boutiquenunwesen – weichen: Ein Streifzug durch Budapest mit literarischer Begleitung  ■ Von Balduin Winter

Budapest eine Stadt? Wie Paris, Amsterdam, Stockholm? Wir liegen also tatsächlich malerisch an beiden Ufern der Donau? ..., und es gibt diese lebensvollen Kaffeehäuser, die die sinnliche Dekadenz des ausgehenden Jahrhunderts heraufbeschwören...?“ Zweifel plagen den avantgardistischen Heimatdichter Péter Esterházy beim Lesen trügerischer Reiseführer. Zweifel plagen mich bei der Einfahrt über die Südschleife der Eisenbahn zum Keleti-Bahnhof. Ein Blick fern allem Malerischen: Csepel, Ferencváros, die alten Moloche des realen Sozialismus dampfen kaum noch, stillgelegte Fabriken mit blinden Fenstern, aufgeplatzten Eingeweiden und verkrauteten Höfen, die Industrieschlacht ist geschlagen, verloren von seinem proletarischen Fußvolk, gewonnen von High-Tech- Firmen. Postmoderne Umbruchszeit. Goldgräberstimmung. Großkonzerne finden hier billige Hände, Go East! lautet ihre Parole.

Erster Lokalaugenschein in der Unterführung beim Keleti-Bahnhof: ein Stehbuffet. Die Wurst beleidigt den Geschmackssinn. Dabei hat Ungarn, wenn es um die Wurst geht, einen Ruf zu verlieren. Margot, meine Budapester Cicerone, klärt mich auf: Die Würste werden zwar nach wie vor in Ungarn hergestellt, doch habe ein deutscher Konzern ein Stück von der Wurst abgeschnitten, sich ein größeres Marktsegment ergattert und diktiere nun das Rezept...

Ein Behinderter eilt auf allen vieren dahin. Die Bürsten an den Stummeln der Oberschenkel und an den Armen machen ein zischendes Geräusch auf dem nassen Steinboden. Mittags speisen wir im Göbé am Jószef-Ring, wo es angeblich den besten Hammelpörkölt von Budapest gibt, und diskutieren über Politik. Boros, der führende Kopf des rechten MDF-Flügels, hat behauptet, die „guten Ungarn“ hätten sich in kritischen Zeiten immer geduckt, sich angepaßt, denn sie seien ein bodenständiges Volk. Ständig am Boden, spottet Margot, und der Bürstenmensch fällt mir wieder ein. Und Imre Kertesz, der über seine Landsleute herzieht: „Februar. Schmutz, Matsch, Irrsinn. Die Stadt wie ein Dürer- oder vielleicht eher Bosch- Stich über den Abgründen der Apokalypse. Schweinegesichter, zähnebleckende Bestiengesichter, stumpfsinnige Pferde- und Rattengesichter, Hundegesichter und Unmengen von Insekten, vom Tausendfüßler bis zur Küchenschabe...“

Vielleicht ist Budapest ein Geheimnis. Es hat sich gut versteckt hinter den unzähligen neuen Neonreklamen. Vielleicht bezieht es seine Spannung aus dem Widerspruch, als alte Metropole einer historischen Nation zu gelten und zugleich jung, unreif zu sein. Der Autor István Eörsi, einer der hartnäckigsten linken Dissidenten, sieht in dieser Unreife einen „Status, in dem man sich noch verändern kann“ und fordert dazu auf, diese Unreife herauszuarbeiten, die eigene gesellschaftliche Erfahrung zu verwerten und nicht andere zu kopieren. Der Verwestlichung, meint er etwas resigniert, wird man freilich nicht entgehen, sonst sinkt man auf das Niveau der Dritten Welt hinunter.

Über das „M“, das aussieht wie zwei spitz gebogene Pommes frites, stolpert man fast in jeder Gasse. Ist der bekannt markante „M“-Geruch das neue Geheimnis von Budapest? Als wir im Müvész sitzen, einem alten Kaffeehaus schräg gegenüber der Oper, erläutert Margot die gastronomischen Parameter dies- und jenseits der Donau. Margots Text: Der schleichenden Entwertung der alteingesessenen Lokalszene steht die galoppierende McDonaldisierung gegenüber. Macs Beitrag zur Stadtsanierung: die Restaurierung alter Baudenkmäler zu Freßtempeln. Doch gäbe es noch Kaffeehäuser, in denen nach alter Tradition Redakteure ihre Besprechungen abhalten, die Zeitschrift 2000 tagt im Café Hungaria, die jüdische Kulturzeitschrift Mult és Jövö im Café Lukács.

Im Müvész sind alle Generationen vertreten: betagte Damen, die mit weggestrecktem kleinem Finger an ihren Teetassen nippen; viele Künstler, Studenten der Musikakademie. Nicht zu vergessen diese nervösen Herren, die schon im Niedersetzen ihr Handy aus der Rocktasche zerren.

Wir spazieren die Andrássy Ut nach Terézváros hinaus, eine kosmopolitane Allee mit altem Baumbestand und Häusern des Fin de siècle, Stein gewordenes Gestern. Und noch etwas anderes, Gestriges und doch noch nicht gänzlich Vergangenes: Haus Nr. 60, das Haus der Schrecken, eine Gedenktafel weist darauf hin: Hier war der Sitz der AVO, der Geheimen Staatspolizei. Schräg gegenüber befindet sich das Café Különlegességi, von hier aus konnte man früher die berüchtigten Limousinen Marke Wolga vor- oder wegfahren sehen. István Eörsi, der nach der Revolution von 1956 vier Jahre im Kerker saß, hat über diesen Gulag in seiner „Erinnerung an die schönen alten Zeiten“ Zeugnis abgelegt. Budapest, Stadt der Kurbäder und der Blutbäder, erinnere ich mich an Péter Esterházys Sarkasmen in „Donau abwärts“. Im Zentrum dieses Buches, zwischen der reichen Donau und der Arme-Leute- Donau, macht er eine verrückte Liebeserklärung an seine Stadt. Beides, Ort, Autor: Zerrüttete, Gespaltene.

Der Westen ist ausgebrochen. Budapest vor zehn Jahren und heute, da ward so mancher Ureinwohner ein Fremder. Dem Westfremden hingegen weckt diese Fremdheit Vertrauen, er kennt ja Beck's, Toyota, Kleider- Bauer. Alteingesessene Buchläden mußten dem Boutiquenunwesen weichen.

In der Régi Posta Utca stehe ich vor einem Jugendstilhaus mit großen Auslagefenstern, die Verglasung in Messing gefaßt. Über dem Eingang zwei spitz gebogene Pommes frites. Hinein ins Paradies. In einem nicht markierten Teil des Lokals sitzt eine Gruppe Roma, die einen Kindergeburtstag feiert. Eine Kellnerin nimmt Bestellungen auf und spielt mit den Kindern, hübsche Idylle: US-Freßkonzern überwindet Rassenschranken...

Aber noch heute bekommen es die Roma deutlich zu spüren, daß sie einen Nagel aus dem Kreuz Christi gestohlen haben, wie ein altes ungarisches Volkslied behauptet. Die Idylle trügt, dort sind die Zigeuner, hier sind die Ungarn, dazwischen ist, ebenso unsichtbar wie tief, ein Graben. Jeder weiß das, jeder hält sich daran, ungarische Tektonik. Wo anders als in dieser Kluft könnte sich das Budapester Geheimnis verbergen? Und wenn eine kleine Rom mit einem Plastikhandy spielt – denn ohne Handy geht nichts mehr – und ein Gespräch mit dem Graben führt, meldet sich, vernehmbar nur für ein Kinderohr, das G... Führt sie aber ein Gespräch über den Graben hinweg, bleibt die Leitung tot.

István Eörsi: „Ich fing eine Fliege beim Minister. Bagatellen“. Aus dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse und Hans Skirecki. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec 1991. 176 Seiten

Péter Esterházy: „Donau abwärts“. Roman. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki, Residenz Verlag, Salzburg und Wien, 1992, 271 Seiten

György Konrád. „Steinuhr“. Roman. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Verlag, Ffm, 1996. 441 S.

Wespennest , zeitschrift für brauchbare texte und bilder. Wien. Themenhefte zur ungarischen Literatur, Nr. 84/1991 und Nr. 97/1994