■ Ohne Druck von „links“ sind in Bill Clintons zweiter und letzter Amtszeit kaum progressive Reformen zu erwarten
: „Family values“ als Lehrstück

Er hat es also geschafft. Der genialste Wahlkämpfer unter der Sonne, der größte Knutscher zwischen New York und San Francisco, der beste Politprediger nach Jesse Jackson, der „Zelig“ der US- Politik. Kein anderer kann einer schwarzen Kirchengemeinde im Süden, einer weißen Arbeiterkneipe im Nordosten, suburbanen Kleinfamilien im Mittelwesten, Unternehmern an der Westküste – und offenbar auch indonesischen Konzernchefs – so eindrucksvoll weismachen, daß er „einer von ihnen“ ist, wie sie denkt, ihre Probleme kennt.

Die Wähler hatten eine nachvollziehbare Rechnung aufgemacht: Unter Clinton konnten sie eine Senkung der Arbeitslosigkeit, niedrige Inflation und eine Reduktion des Defizits und keine außenpolitischen Debakel verzeichnen. Wieviel Einfluß der Präsident darauf hatte, sei dahingestellt. Jedenfalls schaffte das den Wählern genug Ruhe, um sich im Bewußtsein der neuen globalen Ungewißheit beide Alternativen anzusehen: Auf der einen Seite der Republikaner mit einer großen, dummen Idee – dem unglaubwürdigen Versprechen, die Steuern für alle Einkommensklassen um 15 Prozent zu senken. Auf der anderen Seite der Demokrat mit kleinen, gefälligen Ideen. Ein Gesetz, um Arbeitnehmern in familiären Krisenfällen unbezahlten Urlaub zu gestatten; staatliche Gutscheine für Jobtraining; die Anhebung des Mindestlohnes. Kurz gesagt: die Wahl zwischen einem Staat, der den Bürgern etwas mehr Geld gibt, um sie dann allein zu lassen; und einem Staat, der ihnen auf dem tückischen Weg ins 21. Jahrhundert immerhin die Tür aufhält. Wie oft er dazu in der Lage sein wird, ist eine andere Frage. Dies ist ein schwacher Präsident, den ein republikanischer Kongreß und ein Parlamentsausschuß zur Wahlspendenaffäre lähmen kann.

Clintons Politik punktueller Hilfestellungen ist Meilen entfernt von seiner früheren Vision eines effizienten Staates, der den technologischen und ökonomischen Umbruch mit Investitionen in die Infrastruktur, Umweltschutz, das Bildungs- und Gesundheitswesen begleitet. Daß aus diesen Plänen am Ende der ersten Amtszeit bestenfalls Reförmchen, schlimmstenfalls Rückschritte geworden sind, liegt zum Teil an Fehlkalkulationen und notorischem Opportunismus des Präsidenten. Clinton hat sich und seine Partei 1992 als geläuterte Demokraten präsentiert, die den Republikanern das Monopol auf Schlüsselfeldern wie fiskalische Disziplin, „law and order“, autoritäre Sozialpolitik und moralische Werte der weißen Mittelschicht streitig machten. Doch dieser Anpassungsprozeß an den Rechtsruck in der Gesellschaft verschaffte ihm eben nicht den nötigen Spielraum, Wirtschaftspolitik mit einer gehörigen Prise Keynesianismus zu gestalten. Da fuhren ihm Wall Street, Ross Perot und die Republikaner dazwischen. Das ist die bittere Lehre aus der ersten Amtszeit – und sie ist gespickt mit Widerwärtigkeiten, die nicht nur für progressive „friends of Bill and Hillary“ kaum zu schlucken sind: Clintons horrendes Resümee bei Bürgerrechten, die Ausweitung der Todesstrafe, das neue martialische Sozialhilfegesetz, der Gefängnisboom. Die Rolle des repressiven Staates ist gewachsen, die des progressiven geschrumpft.

Doch Clintons Chamäleontaktik erklärt nur einen Teil des Malheurs. Opportunismus ist ebenso Ausdruck seines Überlebensinstinkts wie einer legitimen Korrektur seiner Politik in Reaktion auf gesellschaftlichen Druck.

Womit man beim Kernproblem für die zweite Amtszeit Clintons und die mögliche Nachfolgerschaft Al Gores wäre. Die von einigen US-Autoren prophezeite neue progressive Bewegung aus revitalisierten Gewerkschaften, Kommunitaristen, liberalen Christen, Frauenrechtlerinnen, Umweltschützern, Minderheiten und Angehörigen der weißen Mittelschicht ist nicht in Sicht. Es wird bis auf weiteres keine politische Mobilisierung von links (amerikanische, nicht europäische Ortsangabe) geben, auf die Clinton sich bei Reformen berufen könnte. Deshalb hat er für seine zweite Amtszeit gar keine. Was er anbietet, sind vorsichtige Verlängerungen seiner Reförmchen oder Korrekturen der schlimmsten Rückschritte.

Dabei kommt ihm sein vielleicht größter Erfolg der ersten Amtszeit zu Hilfe: Er hat den Republikanern im besonderen und der Rechten im allgemeinen ihre schlagkräftigste Metapher gestohlen. „Family values“ ist nicht mehr nur Synonym für die Moralisierung der Politik. Clinton hat den Begriff geöffnet für eine, wenn auch minimalistische, staatliche Arbeits- und Familienpolitik. Gäbe es nur etwas Dampf von links, könnte man viel mehr daraus machen. Unter den herrschenden Umständen ist sein Ansatz der „kleinen Ideen“ jedoch der einzig realistische. Kleine Programme, die sich als Erfolg verkaufen lassen, können den Boden für eine rationalere Debatte über die zukünftige Rolle des Staates bereiten.

Es geht nicht nur darum, mit den Folgen einer globalen Ökonomie, sondern auch mit zwei radikalen gesellschaftlichen Umwälzungen in den USA umzugehen: Das Land verändert in einer für Europa undenkbaren Geschwindigkeit seine Demographie. Im Zuge einer der größten Einwanderungswellen werden die Weißen in den USA in 50 Jahren weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Gleichzeitig erweitert die einzige derzeit progressive Bewegung – die der Schwulen und Lesben – gerade die heilige Institution Familie um alternative Optionen zum traditionellen Vater-Mutter- Kind-Modell. Für ein Land, in dem Bibelfestigkeit eine Tugend, Sexualität ein Reizwort und christlicher Fundamentalismus ein politischer Faktor geworden sind, ist dies ein Erdbeben.

Dieser Hintergrund stellt Clinton noch einmal in ein anderes Licht. Seine Einwanderungspolitik und -rhetorik unterscheidet sich deutlich von den xenophobischen Tönen der Republikaner. Bei Bürgerrechten für Schwule und Lesben hat er sich nicht mit Ruhm bekleckert. Doch in der Ära Clinton konnten und können Homosexuelle gesellschaftliche Spielräume erkämpfen und gegen eine christliche Rechte verteidigen wie unter keinem anderen Präsidenten. Es zeigt, was möglich ist, wenn aus einer diskriminierten Minderheit eine politische Bewegung wird, die klug genug ist, Clintons Beute der „family values“ für sich zu nutzen. Alle anderen, die nun darauf warten, daß der Saxophonspieler und Beinahe-Kiffer in einer zweiten und letzten Amtszeit gegen einen republikanischen Kongreß von allein progressive Seiten aufschlagen wird, werden leer ausgehen. Andrea Böhm