Busfahrer und Füllhörner im globalen Markt Von Mathias Greffrath

Wenn Sie in einem Strudel leben, sollten Sie zwei Dinge beachten. Erstens: Sie sollten wissen, an welches Ufer Sie schwimmen wollen. Und zweitens: Geben Sie acht, daß Ihre nächsten Züge grob in diese Richtung zielen. Genauere Angaben gibt es nicht, und wenn Sie welche suchen, werden Sie höchstwahrscheinlich dabei ertrinken. Immanuel Wallerstein,

After Liberalism, New Press, 1995

Als der Chef der schwäbischen Maschinenbaufirma sagte: „Auf einmal standen tausend auf dem Hof da unten, mit der alten IG-Metall-Fahne und den ganzen alten Wörtern“; als im Sindelfinger Werk ein Mercedes-Arbeiter rief: „Die Unternehmer zwingen uns, daß wir uns wieder auf unsere alten Traditionen besinnen“ – da fiel mir der Busfahrer wieder ein.

Der Busfahrer in Eschwege, der dieselbe Arbeit macht wie sein Kollege in Eisenach. Warum, so fragte zum erstenmal vor fünf Jahren Meinhard Miegel in der Zeit, warum lebt dieser Busfahrer besser als sein Kollege im Osten? Es liege, so seine Antwort, an den „Füllhörnern“, an der kreativen Minderheit von „Leistungsträgern“, „Innovatoren“, „Arbeitsplatzschaffern“. Sie bauen die E- Klasse, die Herbizide, die Motorsägen für den Weltmarkt, und Busfahrer, Krankenschwestern, Kommunalbeamte, schlimmer noch: „Flickschuster, Masseure, Klavierlehrer“ schwimmen „mit größter Selbstverständlichkeit auf der Woge des allgemeinen Wohlstands ... ohne eigenes Verdienst“.

Tatkräftige Eliten und parasitäre Nutznießer – das ist eine hübsche kleine Genietheorie, dachte ich damals, so richtig etwas von Professoren für Unternehmerverbände. Eine elitäre Variante der uralten marxschen Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit. Man kann mit ihr nicht mehr viel anfangen, weil man in komplexen Gebilden aus Busfahrern, Softwaredesignern, Psychotherapeuten und Bandmonteuren die Wertschöpfungsanteile gar nicht mehr berechnen kann, sondern nur noch politisch aushandeln. Und weil, wenn wir die Dinge einmal kausal, also historisch ansehen, die Arbeitsteilung als solche – also die Gesellschaftlichkeit der Gesellschaft – das einzige wahre „Füllhorn“ ist. Sie hat uns die wertschaffende Arbeit überhaupt erst ermöglicht, und oft genug, so heißt es beim heiligen Adam Smith, sind „die Maschinen, die in ausgesprochen arbeitsteiligen Gewerben verwendet werden, ursprünglich von einfachen Arbeitern erfunden worden“. Die Arbeit von Generationen ist in das Industriesystem eingegangen und begründet die Ansprüche aller Arbeitenden auf soziale Gerechtigkeit.

Inzwischen sind fünf Jahre ins Land gegangen, wir streiten um die Lohnfortzahlung, und der Busfahrer hat schlechtere Karten. Aus dem Ulmer Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung, einer Denkfabrik von IBM, Daimler, Bosch, Nixdorf, Stuttgarter Regierung und anderen, kam dieser Tage ein Papier über die „Zukunft der Arbeit“. In Professor Radermachers visionärem Weltmarktszenario kurvt immer noch der idealtypische Busfahrer herum, allerdings auf dem globalen Markt. Noch geht es ihm gut. Er verdient real zehnmal soviel wie sein Kollege aus Uganda, „obwohl beide Bus fahren“. Aber nicht mehr lange, denn die „Füllhörner“ haben sich nun weltweit emanzipiert. Die „Durchzieher“ können ihre kreativen Ideen jetzt mit indischen Ingenieuren und indonesischen Arbeitern realisieren, ohne den „deutschen Busfahrer und die deutsche Kindergärtnerin auf ihrem deutschen Lohnniveau sowie auch die sonstigen hohen deutschen Kosten (Steuern usw.)“ mitzahlen zu müssen. Die ohnehin problematische Geschichte vom Busfahrer und den Füllhörnern begründet nun die aktuelle Umverteilung. Denn wie sieht Radermachers Gesellschaft der Zukunft aus?

Es gibt einen kleinen Sektor „hochkompetitiver Kernarbeiter“; die schaffen, bei „extremer Verdichtung der Arbeit“, Werte, daß es nur so kracht: 10, 12, 14, 16 Stunden am Tag. Ihre Arbeitsplätze sind „nicht teilbar, da es um die Akkumulierung von Know-how in einem Gehirn geht“ und nur dies „überproportionale Effekte erschließt“; Kernarbeit läßt sich auch nur „begrenzt mit umfangreicher Verantwortungsübernahme für Familienpflichten koppeln“; und die „Motivation zum Ertragen dieser Art von Belastungen“ wird nur über eine deutliche finanzielle Privilegierung möglich sein. Damit aber wird „aufgrund des Weltmarktdrucks auf absehbare Zeit die Möglichkeit bestimmter Homogenisierungen von gesellschaftlichen Positionen, Rollen, Rechten und Pflichten begrenzt“. Kurz und schlecht: In der Turbogesellschaft geht es weniger gleich und weniger demokratisch zu, sie zerfällt in eine verdienstvolle und verdienende Elite (etwa acht Millionen Superhirne) und einen Kranz von „Rand-Jobs“: einfache Tätigkeiten, Gemeinwesenarbeit zum Niedriglohn, vor allem aber persönliche Dienstleistung an den Weltmarkthelden. „Insbesondere wenn zwei Kernarbeiter sich zur Familiengründung entschließen“ und nun „sehr viel arbeiten müssen, [muß] sich jemand anderes vernünftigerweise um Kinder, Eltern, Haustiere, Heim, Garten, psychologische Stabilität usw. kümmern.“

Professor Radermacher findet diesen männerdominierten Standort, in dem das untere Drittel der Gesellschaft den Weltmarktgebeugten die Rücken massiert und ihren Kindern die Zähne putzt, während das mittlere Drittel in nachgeordneten Funktionen die Logistik für den Weltmarktsturmangriff liefert, nicht schön. Wir alle wollten eigentlich eine nachhaltige, kultivierte, soziale Marktwirtschaft, aber solange die nicht weltweit eingerichtet ist, müsse jeder „unter den Rahmenbedingungen agieren, wie sie sind. Und das heißt (...), daß wir im Moment alle die Beschleunigung der Innovationsprozesse akzeptieren, ja geradezu nutzen und selber vorantreiben müssen, damit wir (...) ökonomisch überleben.“ Ironischerweise hat auch diese Schlaraffenlandvariante der Weltgeschichte den schlechten Marxismus, die vulgäre Erlösungstheologie, beerbt. Das letzte Gefecht auf dem Weltmarkt ist nur mit mehr Klassenspaltung und weniger Demokratie zu haben. Aber am Ende steht dann der ökosozial geordnete Weltmarkt. Und dann wird alles richtig gut. Augen auf und durch.

Radermacher mag seine Vision nicht, glaubt aber, daß es anders nicht geht. Nicht aus Herrschaftsanspruch, sondern aus heroischem Realismus fordert er Ungleichheit: sie ist überlebensnotwendig. Seine Vision der totalen Kapitalisierung der Welt und Schleifung des Sozialen zugunsten des Sieges auf dem Weltmarkt bietet allen, die hierzulande Arbeit abbauen, Steuern verweigern und sich weltweit etablieren, eine konsistente Weltsicht. Und einen Festpunkt. Sie schwimmen los, ihr Ufer fest im Auge.

Eine „schwarze Periode“ haben wir vor uns, sagt Weltmarktanalytiker Wallerstein: 25, 50 Jahre. Und es geht wieder einmal, das haben die Daimler-Arbeiter und der Chef in Schwaben wohl gespürt, um Gleichheit. Die Liberalen haben einen Navigationspunkt. Aber gibt es eine egalitäre Gegenvision, europäisch und demokratisch und realistisch dazu, die den Busfahrern beim Schwimmen helfen könnte? Vielmehr: Wo ist unsere Denkfabrik?