Selbstkontrolle statt Zensur

Eines der zentralen Themen auf dem internationalen Anwaltskongreß in Berlin war das schwierige Verhältnis zwischen Medien und Opfern  ■ Aus Berlin Julia Albrecht

Verdunkeltes Licht, sanfte Stimme, melodramatischer Inhalt und im Hintergrund, auf Cellophan gebannt, ein Mädchen. Kristen French als Fünfzehnjährige: kurz vor ihrem Tod, als Schlittschuhläuferin, als Ballerina. Dazu die Stimme der Mutter: „Kristen war ein schönes, sensibles und liebevolles Mädchen. Sie war eine familienorientierte Person, die heiraten und Kinder haben wollte.“

Was die Mutter an der Seite ihres Mannes im Vortragssaal des Berliner Kongreßzentrums vor Hunderten von Zuhörerinnen und Zuhörern langatmig und immer wieder mit tränengerührter Stimme mitteilt, ist die Geschichte des Mordes an ihrer Tochter und eines Videobandes. Der Täter hatte den sexuellen Mißbrauch und die Vergewaltigungen aufgenommen. Die Eltern wollten um jeden Preis die Veröffentlichung des Bandes verhindern, weil sie ihre Tochter „nicht noch einmal herabwürdigen“ wollten.

Für nordeuropäische Augen und Ohren ist diese medienwirksame Darstellung nur schwer nachvollziehbar. Der Fall der French- Eltern traf dennoch einen zentralen Punkt auf dem Internationalen Anwaltstreffen in Berlin, der IBA (International Bar Association): Ist die Freiheit der Berichterstattung grenzenlos? Darf alles gesagt und gezeigt werden? Oder gibt es Grenzen, die notfalls durch Gesetze durchgesetzt werden müssen?

Auf dem fünftägigen Kongreß, der gestern zu Ende ging, war „das Spannungsverhältnis zwischen Pressefreiheit und Privatsphäre bei der Berichterstattung über grausame Verbrechen“, wie es die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach in ihrem Einführungsvortrag faßte, ein international relevantes Thema. Der Kongreß schlug diesmal alle Rekorde: Aus 110 Ländern waren fast 4.000 Juristen angereist, so viel wie noch nie in der Geschichte der 1947 in New York gegründeten Organisation.

Nicht nur die Bundesrepublik, sondern alle demokratischen Staaten erkennen sowohl die Pressefreiheit wie auch den Schutz der Intimsphäre als Grundnormen an. Doch der Konflikt zwischen diesen Rechten wird höchst unterschiedlich gelöst. Vor allem in Ländern, deren Strafurteile vom Spruch der Geschworenen abhängen, spielen die Presseveröffentlichungen im Vorfeld und als Begleitung eines Kriminalprozesses eine viel größere Rolle als in der Bundesrepublik. Ein faires Verfahren kann dort schon daran scheitern, daß die Geschworenen im Vorfeld durch wertende Berichterstattung beeinflußt wurden. Nicht umsonst sperrte man in den USA die Geschworenen im Prozeß um den Sportstar O. J. Simpson für die gesamte Verfahrensdauer in einem Hotel ein.

Ein Teilnehmer aus England berichtete, daß das Oberste Gericht das Urteil gegen zwei Schwestern wegen Mordes wieder aufhob, weil die Vorverurteilungen in der Presse derart weitgingen, daß die Richter den Geschworenen keine freie Meinungsbildung mehr zutrauten. In Kanada ist es wegen der geltenden Gesetze möglich, in begrenztem Umfang Veröffentlichungen im Zusammenhang mit Strafprozessen ganz zu verbieten. So wurde bei dem Mörder von Kristen French und seiner Frau ein entsprechendes gerichtliches Verbot ausgesprochen, das selbst den Import von amerikanischen Zeitungen zu diesem Thema untersagte. Sogar verschiedene amerikanische Privatfernsehsender wurden daraufhin gekappt.

Über den Umgang mit einer zum Teil menschenverachtenden Berichterstattung stritten sich die IBA-Teilnehmer mit großen Engagement.

Einige Juristen vertraten die Auffassung, das Recht auf freie Meinungsäußerung habe in der Presse unbeschränkt zu gelten. Die vermeintliche Unmoral der Medien sei nichts anderes als eine Reaktion auf den Markt. Die Herausgeber würden sensationelle Nachrichten vor allem deshalb wählen, weil sich ihre Blätter dann besser verkauften. Andere wiederum befanden, das Recht der Presse ende dort, wo die Rechte der Opfer betroffen seien. England ist hier Vorreiter: Dort wurde 1992 ein Gesetz erlassen, wonach im Falle eines behaupteten Angriffs gegen eine Person weder deren Name oder Adresse noch deren Bild veröffentlicht werden darf. Für Deutschland favorisierte Verfassungsrichterin Limbach eine andere Variante, wie sie jüngst im Fall der Reemtsma-Entführung funktioniert hat: Die Medien dürften nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden, die effektivste Form des Opferschutzes sei daher die „Selbstkontrolle“.