■ In den USA soll nebliges Gemeinschaftsgefühl sozialstaatliche Politik ersetzen. Auf Kosten der Armen
: Die kommunitaristische Illusion

Der Wilde Westen im Jahre 1996: In der Stadt der Engel, Los Angeles, rühmt man sich seit einem Jahr, für 400 Millionen Dollar eines der modernsten Gefängnisse gebaut zu haben. Der Haken: Die Kommune hat kein Geld, es zu eröffnen. Also überlegte man, 19 Millionen Dollar aus dem Sozialhilfetopf zu nehmen und mit diesem Geld das nötige Vollzugspersonal einzustellen. Wenn Armut zu Kriminalität führt, warum dann nicht gleich die Haushaltsmittel aus dem Sozialtopf direkt in den Strafvollzug umschichten?

Der Wilde Osten im Jahre 1996: In New York rühmt man sich wieder einer sauberen und sicheren U-Bahn. Der Haken: Die Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs kostet Geld, das die Stadt nicht hat. Also strich die Verkehrsbehörde letzten Monat 500 feste, ordentlich bezahlte Stellen. Die Arbeit soll in Zukunft von 500 Sozialhilfeempfängern erledigt werden. Die müssen nach dem neuen „Reform“-Gesetz, das sie zu „mehr Eigenverantwortung statt Abhängigkeit“ antreiben soll, Jobs vorweisen, wollen sie weiter staatliche Unterstützung erhalten.

Diese beiden Geschichten aus der Lokalpolitik zweier „Traumstädte“ sind lehrreich, weil sie das Zusammenspiel zweier ideologischer Stränge in der amerikanischen Sozialpolitik offenlegen. Da ist zum einen der autoritäre Ansatz, wonach Armut ein moralischer Defekt sei, Sozialhilfe diesen verschlimmere, und Strafvollzug das wirksamste Mittel sozialer Kontrolle darstelle. Da ist zum anderen der kommunitaristische, wonach die Ursachen von Armut durchaus ökonomischer Art sein können, der Anspruch auf Sozialhilfe jedoch die Gemeinschaft unterminiere und eine „Kultur der Abhängigkeit“ fördere. Aus dieser müsse man die Betroffenen befreien, indem man ihnen staatliche Hilfe nur noch als Gegenleistung für Arbeit gewährt. „Soziale Ermutigung“ heißt das im Jargon der Kommunitaristen, welche die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft gern verwischen. Die beiden Strömungen haben längst in beiden amerikanischen Parteien Fuß gefaßt. Der „Vertrag mit Amerika“, den die Gingrich-Republikaner 1994 mit dem amerikanischen Volk eingegangen zu sein glaubten, steckt voller kommunitaristischer Rhetorik. Die Demontage des Sozialhilfesystems versah man mit dem Titel „Gesetz zur individuellen Verantwortung“. Die alles beherrschende „family values“-Debatte, initiiert von der amerikanischen Rechten, integriert die Klagen vieler Kommunitaristen über den Verlust der Gemeinschaft als moralisches Korrektiv.

Bill Clinton wiederum versprach im letzten Wahlkampf noch einen Staat, der sowohl „law-and- order“ durch Todesstrafe und stärkere Polizeipräsenz als auch größere ökonomische und soziale Fairness durch Investitionsprogramme und soziale Reformen garantieren sollte. Nach mehreren bösen Schlappen mußte er den zweiten Teil seines Programms auf kleine Reförmchen reduzieren. Das kompensiert er seitdem durch Appelle an Gemeinschaftssinn, Nachbarschaftshilfe, moralische Verantwortung und Eigeninitiative. Wer also – wie so mancher in der britischen Labour-Partei, bei den deutschen Sozialdemokraten oder Grünen – sehnsüchtig nach dem neuen sinnstiftenden Ismus in die USA schaut, der sperre die Augen auf: Kommunitarismus kommt hier nicht als Rezept für einen „gemeinwohlorientierten“ Kapitalismus zum Tragen. Dabei taucht auch die Frage auf, wie Probleme einer Gesellschaft mit der dubiosen Kategorie der Gemeinschaft zu lösen sein sollen: Eine Gemeinschaft sucht sich ihre Mitglieder prinzipiell selber aus. In einer Gesellschaft ist man Mitglied ohne Ansehen der Person. Das Problem der amerikanischen Gesellschaft ist gerade, daß sich ihre Mitglieder viel zu sehr in Gemeinschaften abriegeln. Einige sind mächtig, andere ohnmächtig.

Nein, Kommunitarismus entpuppt sich in den USA nicht als neue Quelle der Solidarität, sondern dient als rhetorisches Pflaster für Austeritätspolitik und als Begründung für die Beschneidung von Bürgerrechten. Mit dem Konzept einer aufgeklärten Bewegung gegen die Atomisierung der Gesellschaft in Einzelkämpfer, wie es einige Kommunitarier vertreten, hat das nichts mehr zu tun. Der Mißbrauch einer gut gemeinten Idee ist absehbar, wenn man beim Traum von Gemeinschaft(en) die bestehenden Machtverhältnisse übersieht. Doch diese Form von Vulgär-Kommunitarismus kommt gerade jenen recht, die in den 60er und 70er Jahren Programme zur Armutsbekämpfung unterstützt haben und heute Programme zur Armenbekämpfung beklatschen. Ihnen sprach der Kolumnist Richard Cohen in derWashington Post aus dem Herzen, als er die Abschaffung des Bundessozialhilfesystems mit den Worten begrüßte: „Die städtische Unterschicht ist ja relativ klein. Aber sie hat unsere Gefängnisse überfüllt, unsere Städte in Gefahrenzonen verwandelt, und sie hat uns furchtsam und hart gemacht.“

Das hat die städtische (schwarze) Unterschicht jetzt davon, daß sie so hartnäckig Unterschicht geblieben ist: Die Geduld der Wohlwollenden und Aufgeklärten ist erschöpft. „Tough Love“, rauhe Liebe, heißt das neue Motto, mit dem sowohl die Gesellschaft von den Armen, als auch die Armen von ihrer Abhängigkeit „befreit“ werden sollen. Dieses Schlagwort ist nicht zufällig zu einer Zeit in Mode gekommen, als zwei relativ neue Gruppen als Opfer des Turbo-Kapitalismus aufgetaucht sind. Die untere suburbane weiße Mittelschicht, welche die Armutsgrenze dank sinkender Reallöhne deutlich vor Augen hat. Besonders aber die Klasse der „working poor“ kann sich trotz Vollbeschäftigung nicht aus der Armut befreien.

Reform, die diesen Namen verdient, ist nötig und auch möglich. Die „Chicago Assembly“, ein Zusammenschluß von Stadtplanern, Demographen, Stadtteilaktivisten und Vertretern der Privatwirtschaft, hat Wege aufgezeigt: Statt populistischer Reflexe fordern sie gemeinsame Programme für Arme mit und ohne Arbeit – also das Ende der Trennung zwischen Sozialhilfeempfängern und „working poor“. Beide brauchen Ausbildungsförderung und Umschulungsprogramme; Zugang zu billigem Wohnraum und erschwinglicher Kinderbetreuung; Kredithilfe für Collegekurse oder Geschäftsgründungen. Das kostet: Den Staat einiges Geld, das er aller Defizithysterie zum Trotz hätte; die Privatwirtschaft soziale Initiative; und viele Kommunitaristen ihren Irrglauben, in einer Zeit des ökonomischen Sachzwangs könne man Politik durch „Gemeinschaftsgefühl“ ersetzen. Andrea Böhm