Tiere retten, Menschen töten?

Sie fällen Hochsitze, zerstören Versuchslabore, brennen Hühnerfarmen nieder. Tierrechtler werden radikaler. In ihren Schriften propagieren sie nicht nur Gewalt gegen Sachen, sondern bedrohen Menschen  ■ Von Peter Köpf

Zwei Schweine vor ihrer ersten und letzten Fahrt im Paternoster. Es geht abwärts, keine drei Meter tief. Ein kurzes Quieken noch, dann hat das Gas seine Wirkung getan. 20 Sekunden später, wieder oben, wirft die Maschine zwei betäubte Tierkörper aus einem der sechs Gatter. Die Sauen schlafen fest. Jemand wuchtet sie nach oben, bohrt einen spitzen Haken in den rechten Hinterlauf. Noch zwei Meter am Förderband weitergezogen, kopfüber, dann rammt Manfred Müller ihnen die Klinge bis zum Schaft in den Hals. Blut schießt in den Schlauch, der am Messer befestigt ist, und trieft aus dem Maul, das sich öffnet und wieder schließt. Ein letztes Zucken, das Müller „Reflexe“ nennt, dann hängt das Schwein tot am Haken.

Ein Mörder, ich? Manfred Müller blickt ungläubig. „Darüber denke ich nicht nach.“ Mörder, so nennen Tierrechtler Schlachter wie Manfred Müller, die in stinkenden Schlachthöfen den Fleischessern die Schmutzarbeit abnehmen. Mit der SS werden er und seine Kollegen verglichen, manchmal wird auch der Gulag bemüht. Müllers Name ist ein Pseudonym. Sein Arbeitsplatz, ein Schlachthaus 70 Kilometer südlich von Berlin, ist gut gesichert.

Militante Tierrechtler richten ihre gewalttätigen Aktionen zunehmend gegen Fleischproduzenten. Im vergangenen Jahr vernichtete eine autonome Gruppe die Existenz des Öko-Metzgers Matthias Groth in Bremen. Ein Anruf folgte: „Gestern war es der Laden, bald bist du dran!“

Im schwäbischen Westerheim zerstörten die Rächer der Tiere einen kleinen Schlachthof, der für ein katholisches Kirchenfest liefern wollte. Mit dem Gewinn sollte die Ortskirche renoviert werden. Der „Bundesverband der TierbefreierInnen“, Sprachrohr aller autonomen Aktivisten, klagte die Kirche an. Sie habe sich „noch nie um das Mitgeschöpf Tier gekümmert“. Der Salzburger Philosoph Helmut F. Kaplan, Guru der Tierrechtler, träumte anschließend in der Szenezeitschrift „Tierbefreiung aktuell“, daß immer mehr Schlachthöfe angegriffen und „in die Luft gejagt“ worden seien.

Die Gewalt der deutschen Tierrechtskämpfer zielt nicht direkt auf Menschenleben. Doch Kaplans Gesinnungsfreund Edmund Haferbeck propagierte im selben Blatt Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Verletzung der Bannmeile, Diebstahl und Nötigung als „immer berechtigt, um die eklatanten kriminellen Energien gegen die Mitwelt, die Natur und die Mitgeschöpfe abzuwehren und abzustrafen“. Die „Zerstörung von Massen-Tierhaltungsställen des Oberkriminellen Pohlmann“ erscheine gerechtfertigt, „auch wenn es sich um Vergehen der Sachbeschädigung, des Hausfriedensbruches oder gar der Gründung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung handelt“.

Anton Pohlmann ließ in seinen Hühnerbatterien Hunderttausende von Tieren töten, weil sie mit Salmonellen befallen waren. Gegen Milben besprühte der „Eiertollah“ (Die Woche) die Hühner mit Nikotin. Trotz hoher Rückstände kamen seine Eier auf den Markt. In Juni 1996 wurde er zu einer hohen Geld- sowie einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sie wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Haferbeck will jetzt offenbar nachholen, was die Justiz seines Erachtens nach versäumte. Es könne durchaus sein, schrieb er, daß „Leute wie Pohlmann, vor denen der ,Rechtsstaat‘ seit über 20 Jahren kapituliert, aus dem Verkehr gezogen werden müssen“. Tiere retten, Menschen töten? Edmund Haferbeck ist Verleger und Westimport der Bündnisgrünen in Schwerin.

Schlachter Müller kann nicht verstehen, warum Leute wie er „aus dem Verkehr gezogen werden müssen“. Er glaubt, daß die Tiere nicht leiden. Der schmächtige junge Mann ist von oben bis unten mit Blut bespritzt, die Brille, der Bart, Schuhe, Hose, Jacke, Helm – alles weiß mit roten Sprenkeln. Draußen warten noch Dutzende Schweine auf ihren „Killer“. Teilnahmslos liegen sie in ihren Wartebuchten und trinken Wasser. Es sei wirklich nur Wasser, behauptet Geschäftsführer Klaus Geiger (Name ebenfalls geändert), ganz ohne Beruhigungsmittel. Nichts zu sehen von Panik, wie Tierrechtler immer wieder klagen.

„Animal 2000“ schreibt, der „Geruch von Blut und Tod“ verursache bei Schweinen im Schlachthof Angst, Panik und Schreien. Schweine könnten solchen Geruch gar nicht feststellen, betont Geiger, als gebe es da gar keinen Zweifel. „Die riechen kein Blut.“

300mal pro Stunde verrichtet Müller sein stummes Todeswerk, 350.000mal im Jahr abzüglich Urlaub und Krankheitstage. „Alpträume hab' ich keine“, versichert ein nun verunsicherter Mensch noch, bevor ihn der Chef zurückschickt zur Maschine.

Die Tierkadaver werden inzwischen durch die Reinigungsanlage gezogen. „Wie eine Waschstraße“, bemerkt Geiger lakonisch. Jetzt ist das Tier für ihn „eine Sache“, kein Lebewesen mehr. Eine Ware. Schweine zu Fleisch zu verarbeiten oder ein Auto am Fließband zusammenzubauen ist für ihn das gleiche. Das Fließband im Schlachthof hat auch einen Zeittakt. Borsten abschrabbeln, waschen, Flammenwerfer, Kühlwasser. Die Sau dampft und glänzt jetzt wie frisch gewienert. Weiter durch eine Schleuse. Zwei Schnitte, vom Hals abwärts und am Bauch. Die Innereien quellen heraus, dann Herz und Organe. Einer sticht dem Tier die Augen aus, schneidet die Ohren ab. Nächste Station: Eine Säge rattert durch den leblosen Körper, zwei Hälften fallen auseinander. Fleischbeschau noch, dann geht's ins Kühlhaus. Zwei Stunden vom lebenden Tier zum Fleischklumpen. Das sieht der Kunde nicht, wenn er ein Schnitzel kauft.

Für radikale Tierrechtler sind Fleischesser Mörder, mithin 97 Prozent der Deutschen. Ein Killer ist auch, wer Wolle trägt, gerne Seidenblusen anzieht oder Honig mag, wer Milch trinkt und Käse ißt. Auch Seidenraupenmotten würden „geschlachtet“, „gebacken“ und „gekocht“, Honigbienen nach der Saison häufig „ermordet“. Die Anwälte von „Bruder Tier“ leben deshalb vegan, verzichten also auf jegliche tierische Produkte – zumindest theoretisch.

Denn Silke Ruthenberg von „animal peace“, der größten Tierrechtsorganisation der BRD, füttert ihre Katzen mit Seelachs von Whiskas, fragt ihren Arzt bei einer Ohreninfektion nicht, ob das Medikament, das er ihr gerade ins Ohr träufelt, am Tier getestet wurde, und wenn sie bei der Fahrt mit ihrem 7er-BMW Dutzende von Insekten tötet, nimmt sie das als Tribut an die Realität.

Trotzdem fordert auch sie, daß Tierversuche abgeschafft werden und statt dessen Medikamente ohne vorherige Risikobegrenzung durch Tierexperimente am Menschen getestet werden. Experimentatoren bezeichnen sie als „Mengele-Konsorten“.

Mit Begriffen wie „Genozid“, und „Tier-KZ“ werfen Tierrechtler nach ihren Gegnern, bis diese ganz braun sind und sie selbst das Gegenteil. Dabei waren es die Nationalsozialisten, die erstmals in Deutschland Ernst machten mit dem Tierschutz. Tiere zu schützen galt als „urdeutscher Wesenszug“. Ausgerechnet Hermann Göring meinte, unbetäubte Tiere zu zerschneiden oder zu operieren, sei eine Mißhandlung. Nur unter strenger Aufsicht eines Institutsleiters durfte nach 1933 noch experimentiert werden, stets betäubt. Daß der „Führer“ Vegetarier war, belastet Tierrechtler heute am meisten. Deshalb mühen sie sich in unzähligen Schriften, sich von den Nazis abzugrenzen.

Die Bewegung wächst. Die moderateste Gruppierung, „animal peace“, hat bereits mehr als 28.000 Mitglieder. Eine internationale Gruppe von WissenschaftlerInnen um die bekannte Affenforscherin Jane Goodall fordert „Menschenrechte für die Großen Menschenaffen“, die Frauen von Emma haben ihr Herz für Tiere entdeckt (Frauen und Tiere würden von den „Herren der Schöpfung“ unterdrückt). Und auch die Philosophie nimmt sich des Themas an.

Der britische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) hat den Tierrechtlern den Leitsatz geliefert. Er fragte, was die „unüberschreitbare Trennlinie zwischen Tier und Mensch ausmache. „Ist es die Fähigkeit des Verstandes oder vielleicht die Fähigkeit zu sprechen? Aber ein ausgewachsenes Pferd oder ein Hund sind unvergleichlich verständiger oder mitteilsamer als ein einen Tag oder eine Woche alter Säugling.“ Bentham weiter: „Die Frage ist nicht: Können sie denken? oder: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?“

Heute greifen Philosophen das Bentham-Wort wieder auf. Peter Singer ist einer von ihnen. Schon 1982 ist in der Bundesrebublik seine „Bibel“ für Tierrechtler erschienen, eben wurde „Animal liberation“ („Befreiung der Tiere“) neuaufgelegt. Singers konsequente, aber abstoßende Philosophenlogik hat ihn bekannt gemacht. In seinem Bemühen, Tieren zu helfen, stellte er die Frage, warum man denn so intelligente Tiere wie Schweine töten dürfe, nicht aber schwerstbehinderte Neugeborene.

Singers deutsche Kollegin Ursula Wolf stellt sich einen Notfall vor, bei dem ein Mensch und ein Tier zu retten wären. Der Retter kann nur einem helfen. Entschiede er sich für den Menschen, so sei dies „prinzipiell legitim“, meint Wolf. Doch: „Wenn das Tier ein bekanntes Tier ist, wäre ebenso die umgekehrte Entscheidung möglich.“ Man stelle sich vor, in einem brennenden Haus wären ein kleines Kind und ein Hund eingesperrt. Ein Helfer naht, er sieht den Hund, es ist der seine ...

Was Philosophen vordenken, leben die Aktivisten. Längst explodieren in England Dutzende von Briefbomben bei Jägern, Viehhändlern, Fleischern und in Versuchslaboren. 200 Tierrechtler sitzen auf der Insel in Gefängnissen, mit Freiheitsstrafen bis zu elf Jahren. In Deutschland flitzen Nackte durch Fußgängerzonen, um gegen Pelzträger zu demonstrieren, Hochsitze werden umgesägt, Forschungslabore zerstört. Eine Münchener Affenforscherin erhielt Morddrohungen. Von „Latschdemos“ habe er genug, erklärte ein Aktivist einer Gruppe namens „Die Ratten“. Aktionen seien angesagt, „die sich direkt an die Adressen der Ausbeutenden richten. Aktionen, wie sie von den Medien zur Bedingung gemacht werden, damit überhaupt Berichterstattung erfolgt“.

Was Tierrechtlern täglich neue Argumente liefert, ist das Grauen in der Massenproduktion: Fünf Hühner in Käfigen so groß wie diese Zeitungsseite, Schweine, die ein Leben lang in engen „Stehsärgen“ eingepfercht sind, stundenlange Viehtransporte ... 25 Millionen Schweine, 16 Millionen Rinder, drei Millionen Schafe, 36 Millionen Masthühner, 5,6 Millionen Truthähne, mehr als zwei Millionen Enten, 600.000 Gänse warten in Deutschland auf ihren Schlachter.

Doch gegen die fürchterlichen Bedingungen in der Massenproduktion läßt sich auch ohne Gewalt etwas unternehmen. Die Warteschlangen in den Ökometzgereien werden deutlich länger, nicht nur aus Angst vor BSE. Ganz auf Schnitzel und Rindsfilet verzichten Stars wie Madonna und Prince, Bryan Adams und Meat Loaf (!), Nina Hagen und Elke Heidenreich.

Auch wenn es den radikalsten unter den „Tieranwälten“ nicht gefallen mag: Silke Ruthenberg glaubt, daß ihr Weg eher zum Ziel führt, auch wenn er länger erscheint: „Millimeterweise den Himalaya besteigen.“ Der Vegetarier Hermann Peter Piwitt meint, die radikalen Tierrechtler, die Veganer, seien „verrücktes Beiwerk“ der Tierrechtsbewegung. Weil aber ohne Übertreibung und Schock offenbar nichts gründlich zu widerlegen sei, gelte vielleicht: „Man muß das Unmögliche fordern, damit das Machbare geschieht.“

Nietzsche wird von Tierrechtlern als Zeuge herbeigerufen, weil er sich in Turin weinend einem Pferd um den Hals geworfen haben soll, als der Kutscher auf es einprügelte. Nietzsche hat aber auch gegen Tierschützer gespottet: „Menschen, die vor Gift und Eifersucht gegen Menschen beißen mögen, predigen Wohlwollen gegen die Thiere.“

Von Autor Peter Köpf ist soeben erschienen: „Ein Herz für Tiere? Über die radikale Tierrechtsbewegung“. J. H. W. Dietz Verlag, 175 Seiten, 24,80 DM