Leben und leben lassen im Madrider Untergrund

■ Die U-Bahnhöfe der spanischen Hauptstadt sind ein riesiger Basar. Niemanden scheint zu stören, daß Zigaretten, Kleidung und Kassetten größtenteils Schmuggelware sind

Der Zug fährt in den U-Bahnhof Cuatro Caminos ein. Maki reibt sich die Augen, streckt sich, greift zum Rucksack und steigt aus. Der Bahnsteig liegt verlassen da. Es ist 6 Uhr morgens. Der 25jährige Marokkaner steigt zum Zwischengeschoß hinauf und geht zielstrebig auf eine riesige Kinowerbung zu. Er öffnet den Rucksack und baut vor sich auf dem Boden fein säuberlich seine Ware auf: Zigaretten, fünf verschiedene amerikanische Marken, immer eine an der Längsseite geöffnete Stange und ein paar lose Päckchen obendrauf.

Ein Preisschild braucht er nicht. „Die Kunden wissen Bescheid, 225 Peseten (2,60 Mark), 85 (eine Mark) weniger als im Geschäft“, erklärt Maki. 50 Pfennig verdient er an einem Päckchen. Schmuggelware, von einem Netz von Großhändlern aus Gibraltar und Andorra eingeführt. Jeden Tag steht Maki hier. Von 6 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, unterbrochen von einer zweistündigen Mittagspause. „Reich werde ich dabei nicht, aber die 60, 70 Mark am Tag reichen zum Überleben“, sagt der arbeitslose Maurer.

Langsam kommt Leben in die gekachelten Gänge. Cuatro Caminos ist ein Umsteigebahnhof. Von hier geht es in die nördlichen Industriegebiete, zur Universität und zur Castellana, der Lebensader Madrids, mit Banken, Versicherungen, Ministerien und Gerichten. Ein Stück den Gang hinunter bieten zwei Senegalesen ihre Ware feil. Ein Teppich auf dem Boden dient als Unterlage: T-Shirts, Trainingsanzüge, Hosen – auf allem prangt das Emblem einer bekannten US-Marke. Die niedrigen Preise nähren allerdings die Zweifel an der Echtheit der Ware. Ob Kleidung, Rucksäcke, Schokoriegel, Raubkopien von Musikkassetten, alte Rätsel- und Comic-Hefte – auf den Gängen der Madrider U-Bahnhöfe wird einfach alles verhökert. Die Märkte sind fest aufgeteilt: Zigaretten in den Händen der Marokkaner, Kleidung in denen der Senegalesen und Gitanos – wie hier die Sinti und Roma genannt werden –, Kassetten und Zeitschriften in denen der Madrilenen aus den armen Vororten.

„Unsere Kunden kommen aus allen Schichten“, sagt Maki, von der Hausfrau über den Arbeiter bis hin zum leitenden Angestellten oder hohen Beamten. Niemand stört sich daran, daß es sich bei den Zigaretten um Schmuggelware handelt. Maki hat einen ganz besonderen Stammkunden: einen der Chefs des benachbarten Polizeikommissariats. „Als der das erste Mal in Zivil auf mich zukam, dachte ich, jetzt gibt's Ärger. Dabei wollte er nur kaufen“, erzählt Maki.

Einige haben mittlerweile den Sprung in die Waggons gewagt: Im Winter bieten fliegende Händler in den fahrenden Zügen Papiertaschentücher an. So manch ein schniefender Fahrgast dankt es ihnen, trotz maßlos überhöhten Preises. Andere haben ein ganz besonderes Geschäft entdeckt: die Poesie. Sie teilen handgeschriebene Gedichte aus und sammeln sie danach wieder ein. Wem es gefallen hat, der behält den Zettel gegen ein kleines Entgelt.

Wieder wechselt ein Päckchen Zigaretten den Besitzer. Maki steckt die Münzen weg, ohne dabei die Eingänge aus den Augen zu lassen. Verkaufen in der U-Bahn ist verboten. „Die Polizeikontrollen nehmen in letzter Zeit zu“, sagt Maki. Vor zwei Tagen war es mal wieder soweit. Plötzlich tauchten an allen Eingängen gleichzeitig Polizisten auf. „Der Tabak war flöten, und jetzt droht mir ein Wahnsinnsbußgeld.“ Doch Maki will weitermachen, so lange, bis er endlich wieder eine feste Arbeit gefunden hat. Reiner Wandler, Madrid