Ein Zufall und die Unmöglichkeit des Flirts

■ Wunderbare Schnipsel einer Auseinandersetzung: Jean Genets „Rembrandt“

Als wäre er in das Loch einer übergroßen Erkenntnis gefallen, die aller Wahrnehmung den Boden entzieht, erlebt Genet in einem Zufall die Begegnung mit dem Blick eines mittelalten Mannes: „Als ich eines Tages in einem Waggon einen Fahrgast ansah, der mir gegenüber saß, hatte ich die Offenbarung, daß jeder Mensch soviel wie ein anderer wert ist.“ Wie ein Krebs zerfrißt dieser Gedanke alle Sicherheiten und zieht so weite Kreise, daß nichts von ihm unberührt bleibt.Das Entblößen des Lebens von allem Oberflächentand hatte Genet im Werk Rembrandts zu entdecken gemeint, „dieser strenge Finger, der den Goldflitter entfernt und zeigt ...was? Eine unendliche, teuflische Durchsichtigkeit.“ Den Schock der Erkenntnis wollte er in Textform fassen. Die erste Erfahrung der Bilder des holländischen Meisters, der als selbstverliebter 20jähriger angefangen hatte und als „von allen sozialen Urteilen“ Befreiter endete, hatte Genet in den späten 50er Jahren durchlebt und war in seiner Auseinandersetzung mit dem Maler auf ein Leben gestoßen, dessen Richtung seinem (auch wenn er dies damals nicht wissen konnte) recht ähnelte. 1957 wurde Genets Rembrandtbuch angekündigt, das nie erschien. Erhalten sind nur die Fragmente „Das Geheimnis Rembrandt“ und „Was von einem Rembrandt übriggeblieben ist, der säuberlich in kleine viereckige Fetzen zerrissen und ins Klo geschmissen wurde“, die der Merlin Verlag nun in einer wunderschön aufgemachten deutschen Ausgabe vorlegt: Zwei Texte randvoll von der zum Zerreissen gespannten Aphoristik Genets, der über Rembrandt schreibt und dabei nichts weniger als die Wahrnehmung des Seins und sich selber meint. Das Hinterfragen bis hinter die Grenzen des Hinterfragbaren versucht er – und scheitert grandios, weil er eben nicht an der Grenze haltmacht. Er spricht von Rembrandts Veränderungen im Leiden und den Verlust des Glaubens an Tand und Reichtum. Aber er spricht auch davon, daß jede Individualität an sich Illusion sei – und verunmöglicht damit nicht nur die Möglichkeit des Flirts (“Die erotische Suche ist nur dann möglich, wenn man annimmt, daß jedes Wesen seine Individualität hat...“), sondern auch die seiner Auseinandersetzung mit Rembrandt, dem Genet ähnliche Auflösungserscheinen unterstellt. In seinem Vexierspiel ist die Unsicherheit Grundlage des Texts, und Rembrandt ist Gegenstand ebenso wie Vorwand.

Als Vorbemerkung erzählt der Pariser Verlag Gallimard die Mär vom Rembrandt-Manuskript, das mit vielen anderen Texten von Genet in einem Leidensrausch nach dem Tod seines Liebhabers 1964 zerstört wurde, und geht dabei davon aus, daß dieses Konvolut angerissener Wahrheiten einmal als Ganzes abgeschlossen war. Dabei ist wahrscheinlicher, daß Genet nie weiter gekommen war als bis zu den zwei, drei Schnipseln. Der Text über die Rembrandt-Schnipsel ist als Anstrengung in sich geschlossen. Gerade als Fragment und, Genets eigenen Gedanken folgend, nur als Fragment. Und er ist ein wunderbares Fragment.

Thomas Plaichinger Jean Genet, „Rembrandt“, Merlin Verlag, 48 DM