Die „Revolution von oben“ in Bolivien

Die Reformen des bolivianischen Präsidenten Sánchez de Losada geben der indigenen Bevölkerungsmehrheit erstmals Mitbestimmungsrechte. Heute besucht er Deutschland  ■ Von Gitti Müller

Die einen nennen ihn fast liebevoll „Goni“ und bezeichnen seine Politik als „sanfte Revolution von oben“. Die anderen klagen ihn an, den Ausverkauf Boliviens zu betreiben. Und manche tun beides. Kaum ein anderes Staatsoberhaupt in der bolivianischen Geschichte hat so viel ambivalente Kritik, so viel Lob und Tadel für seine Politik bekommen wie Gonzalo Sánchez de Lozada. Seit seinem Amtsantritt legt Bolivien ein Reformtempo vor, das die internationalen Geldgeber tief in die Tasche greifen läßt. Mit 425 Millionen US-Dollar wurde Bolivien im vergangenen Jahr unterstützt, für 1996 sind 725 Millionen US-Dollar zugesagt. Das Bonner Entwicklungshilfeministerium bringt 1996 insgesamt 72 Millionen Mark für technische und finanzielle Zusammenarbeit auf.

Das „neue Bolivien“ steht auf drei Füßen – auf wackeligen Füßen, frohlocken die Gegner hinter vorgehaltener Hand; auf stabilen Pfeilern, versichern die Fürsprecher des Reformpakets. „Plan de todos“, der Plan für alle, heißt das Paket, und da ist drin: die Privatisierung der staatlichen Betriebe durch ausländische Investoren (Capitalisación), die Bildungsreform und die sogenannte Volksbeteiligung (Participación Popular). Weitere Beigaben: eine administrative Dezentralisierung, Wahlrechts- und Justizreform.

Eine der markantesten Veränderungen birgt die Reform der Participación Popular. Im Mittelpunkt der Reform steht die geradezu revolutionäre Delegation von Kompetenzen und Ressourcen an die Gemeinden und traditionellen Dorfgemeinschaften. Eine „partizipative Demokratie“ hatte der Präsident vor den Wahlen versprochen – aber kaum jemand hatte damit gerechnet, daß er das wirklich ernst meinte.

In einer kleinen Dorfschule in der Nähe des Titicacasees zum Beispiel scheint wahr zu werden, was das neue Gesetz verspricht. Morgens früh um acht Uhr ist es noch kalt im unbeheizten Lehmbau auf 4.000 Meter über dem Meeresspiegel. Draußen sind die Pfützen noch gefroren, drinnen drängen sich etwa 40 Jungen und Mädchen dicht an dicht. Ihre Mützen und Schals haben sie noch anbehalten. Aber so kalt wie sonst ist es heute nicht, sagen sie und zeigen stolz auf die neu verglasten Fenster. Juan ist seit vier Jahren in der Schule. Immer pfiff der eisige Wind des Altiplano durch die Fensteröffnungen, erzählt er. Vor wenigen Monaten hat die Dorfgemeinschaft in einer Vollversammlung beschlossen, neue Fenster anzuschaffen. Das beschädigte Wellblechdach, ein Wahlgeschenk aus früheren Zeiten, wurde gegen das traditionelle und besser isolierende Pampagrasdach ausgewechselt. Und bald sollen Stühle die wackeligen Bänkchen ersetzen, auf denen sich jetzt noch vier bis fünf Kinder drängen. All das wird finanziert aus Mitteln der Participación Popular.

Mit einem Lied beginnt der Schultag, das war immer so. Aber früher sang kaum jemand mit, so Lehrer Mamani, denn es wurde auf Spanisch gesungen. Heute singen und lernen sie in ihrer Muttersprache Aymara – mit mehr Spaß und Erfolg. Spanisch kommt als Fremdsprache hinzu, die Bildungsreform macht's möglich.

Die Mitwirkung der indianischen Bevölkerung ist insbesondere bei der Reform der „Volksbeteiligung“ gefragt. Mit 34 verschiedenen Ethnien, in der Mehrzahl Quechua und Aymara, ist Bolivien ein multikulturelles Land. Über zwei Drittel der Bevölkerung sind indianischer Herkunft. Von politischen Entscheidungsprozessen waren sie bisher weitgehend ausgeschlossen. Zuwendungen vom Staat gab es früher in den ländlichen Regionen kaum. Beispiel Departement La Paz: Früher flossen 99 Prozent der öffentlichen Ausgaben für das gesamte Departement in die Stadt und nur ein Prozent in die ländlichen Gebiete. Immer mehr Menschen strömten in die Städte. Nach der Reform werden die öffentlichen Gelder auf alle Einwohner gleichberechtigt verteilt. Für La Paz bedeutet das: Nur noch 59 Prozent der Gelder fließen in die Stadt, der Rest aufs Land. Und: Die traditionellen Dorfgemeinschaften werden als „Basisorganisationen“ gesetzlich anerkannt. Sie übernehmen nun Verantwortung für ihre Schulen, den Gesundheitssektor und andere soziale Bereiche.

Aber nicht alle sind vom neuen Programm überzeugt. Manche Dorfgemeinschaft zögert noch, sich als „Basisorganisation“ eintragen zu lassen, um in den Genuß der öffentlichen Gelder zu kommen. Juan Mamani, ein Bauer aus dem Hochland, erklärt es so: „Weil man Geld bekommt von der Participación Popular, glauben manche, daß wir das alles irgendwann selbst finanzieren müssen. Das heißt, eines Tages müssen wir es vielleicht zurückzahlen mit unserem Land, unseren Feldern und Tieren.“ Während er redet, läßt er eine Handvoll Erde bedächtig von der einen in die andere Hand gleiten.

Mit Slogans wie „Bolivien vereint in seiner Vielfalt“ wird auf Plakaten und in Radio und Fernsehen für die Reform geworben. Durch Fortbildungsveranstaltungen und Seminare sollen Bauern und Städter auf ihre neuen Aufgaben vorbereitet werden. Immerhin: Inzwischen setzen 50 Prozent aller ländlichen Gemeinden die Participación Popular um, über 10.500 Basisorganisationen haben Rechtspersönlichkeit erlangt.

Ein wenig Überzeugungsarbeit hätte die Regierung wohl auch in Sachen „Privatisierung“, der zweiten Säule des Reformprogramms, gebraucht. Mit Hungerstreiks und Massendemonstrationen protestierten die Bolivianer Anfang März gegen den „Ausverkauf“ der staatlichen Betriebe. Der Verkauf der Fluggesellschaft an die Brasilianer und der Fernmeldedienste an die Italieer im vergangenen Jahr ging noch ruhig vonstatten. Doch als die staatlichen Eisenbahnen ausgerechnet an die Chilenen – an die der Andenstaat im vorigen Jahrhundert den Zugang zum Pazifik verloren hat – zum Spottpreis von 40 Millionen Dollar verkauft wurden, hagelte es Kritik: Der Präsident beginge Landesverrat.

Nicht weniger umstritten sind die Pläne zur „Kapitalisierung“ des nationalen Erdölunternehmens YPFB. Laut Umfrage sind 80 Prozent der Bolivianer gegen die „Auslieferung von YPFB an Fremdkapital“. Die Tatsache, daß 50 Prozent der Aktien in Staatsbesitz bleiben und den Grundstock für die individuelle Altersversorgung bilden sollen, stimmt kaum versöhnlich. Denn die Sanierung der Staatsunternehmen wird – zumindest kurzfristig – weitere Arbeitsplätze kosten. Und wer den alltäglichen Überlebenskampf mit leerem Magen führt, hat wenig Muße, über die Altersversorgung nachzudenken, und kaum Grund, auf sie zu vertrauen.