Volk und Wahn: 38 Tore eines Toren

■ Deutschland hat einen neuen Volkssport: die Intellektuellenschelte. Kein Erbarmen kennt auch „Spiegel“-Autor Henryk M. Broder mit den „linken Nazis“

Wie dem Kanzler die „rotlackierten Faschisten“ sind die neuen Nazis bei Henryk M. Broder all diejenigen, die es einmal mit dem Sozialismus hielten. Wer noch immer nicht gescheiter geworden ist, sowieso. Wer wie Broder Lust dabei empfindet, kann ein ganzes Buch lang zusehen, wie den „entarteten Intellektuellen“ in die Hacken getreten wird, ohne die rote Karte fürchten zu müssen.

38 polemische Geschichten, treten und weiterrennen. Die rechte Außenlinie lang und wieder treten nach allem, was sich links bewegt – wie Stefan Reuter bei Borussia Dortmund. 13 davon durften wir schon mal im Spiegel lesen, einige in der Woche, der Rest wird jetzt doch noch gedruckt, 256 Seiten, das ist zuviel Broder auf einmal. Hier eine Kurzzusammenfassung einer öden Partie:

Erste Minute, der erste Angriff rollt gegen die linke Defensivseite. Die SED wird als neue Heimat zahlreicher Ex-NSDAP-Genossen nach 1945 vorgeführt. Broder: „Man blieb sich treu, indem man das Kostüm wechselte.“ Ganz falsch ist das nicht, aber wahr ist auch, daß man im Westen nicht mal seine Klamotten ändern mußte. Was schert's Broder. Der Angriff sitzt. Eins zu null im freien Nachtreten.

Neue Angriffe, jetzt gegen jüngere Personen der Zeitgeschichte: Grass und Müller und gegen Stasi- Zuträger wie Gysi – jeder kriegt einen Tritt, wie auch zahllose andere, die sich nicht nur Gedanken machen, ob sie „auch gern mal nach Kalkutta statt nach Kap Arkona gefahren wären“. Ein Rechter wird auch abgewatscht, Ingo Hasselbach, aber nur weil er ausgestiegen ist. Zwo zu null.

Schon sind wieder die Linken dran. Aussagen wie Grass' Wort von der „kommoden Diktatur“, die die DDR gewesen sei, quittiert Broder dankbar mit Kübeln von Häme und ausdauernder Arroganz. „Deutsche Intellektuelle“, resümiert der diesen gänzlich ferne Broder, „verzichten lieber zeitweise auf französischen Champagner, als daß sie eine Gelegenheit versäumen, sich vollmundig zu blamieren.“ Das sitzt erneut.

Weil Broder so etwas nie passiert, steht's jetzt schon drei zu null. Er wußte bald, daß er lieber nicht verzichtet. Bis in die siebziger Jahre hinein straff links, wechselte auch er schnell das Kostüm und verortete sich da, wo er heute noch steht. Von da an waren bei ihm alle Linken Antisemiten. „Ihr seid Kinder eurer Eltern.“ Sippenhaft.

Seither tritt sich Broder erfolgreich durch die Reihen der Linken. „Volk und Wahn“ endet mit einem Kantersieg. Ein leichter Triumph gegen einen Gegner, der angeschlagen ist wie ein lanzenbespickter Stier in der Arena. Da ist leicht, großzügig zu sein: Sahra Wagenknecht, der jungen „Altstalinistin“ der PDS, möchte Broder mal bei Aldi begegnen, „um ihr die Einkaufstaschen bis zum geparkten Trabbi zu schleppen“. Warum verzeiht er ihr, obwohl Sahra das „h“ an der falschen Stelle trägt? Weil sie „eine optische Freudenstrecke“ sei, sie die „PDS libidinös aufgeladen“ habe und „für einen Hauch von Erotik im Klassenkampf sorgt“. Soll man für solche Tiefflüge eine Wertung geben?

Der größte Schmäh, der finale Gnadentritt, kommt zum Schluß. Broder verrät uns, warum die Intellektuellen den Kapitalismus verachten und Anhänger des Sozialismus seien: weil sie in totalitären Systemen von den Machthabern ausgehalten werden, während sie im Kapitalismus um Marktanteile kämpfen müßten. Das läßt tief blicken. Oder auch nicht. Vielleicht ist es nur so, daß ein Linker dem Broder mal eine Freundin ausgespannt hat. Peter Köpf

Henryk M. Broder: Volk und Wahn. Spiegel Buchverlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1996, 256 Seiten, 36 DM