Journalistischer Raufbold

■ Mit dem "Stern" machte Henri Nannen über dreißig Jahre lang Schlagzeilen, Geld und Politik. Die letzten Jahre seines Lebens widmete er der Kunst

Ein „Blattmacher“ wurde Nannen genannt, und darin schwang die berechtigte Sehnsucht nach einer Zeit mit, in der hinter Magazinen noch Köpfe standen und nicht bloß Erfüllungsgehilfen der Verlage, die eine Zeitschrift als Profitcenter verstehen und den publizistischen Erfolg am Reißbrett entwerfen wollen.

Blattmacher: Nannen hat dieses Etikett, das Autarkie genauso bedeutet wie politische Überzeugung, verdient. Er hat selbst mit Hand anlegt – die Geschichten nicht nur in Auftrag gegeben, sondern selbst geschrieben. Ein Triebtäter im produktivsten Sinne. Henri Nannen – ein guter Name für eine Journalistenschule, wenn man dort mehr lernen kann, als hundert Zeilen zu füllen.

„Wenn ich predigen will, muß die Kirche voll sein“, hieß Nannens Motto, als er den Stern 1948 aus der Jugendzeitschrift Zickzack entwickelte. Mit einer Mischung aus Sex, politischer Streitlust und schrillen Fotoreportagen machte er das Magazin zur Geldmaschine und zum meinungsführenden Blatt in Deutschland. Sich selbst sah er dabei als die Lokomotive, die den Redaktionszug auf den Affenfelsen zog, von dem aus er die Schlagzeilen mitunter selbst machte: Als 1962 Riemenschneiders „Madonna im Rosenkranz“ aus dem Museum in Volkach gestohlen wurde, bot Nannen den Tätern 100.000 Mark für die Rückgabe. Das Bild mit der Madonna kehrte zurück, und Nannen hielt Wort, die Täter nicht an die Polizei zu verraten.

Schon Nannens imposante Statur verhieß Schaffenskraft: Er erfand den klatschsüchtigen „Soraya-Journalismus“, rief die Aktion „Jugend forscht“ ins Leben und machte gleichzeitig Politik – auch gegen den Willen seines Verlegers Gerd Bucerius.

Gemeinsam mit Rudolf Augstein bildete Nannen das publizistische Regulativ zu Axel Springer, der in seinen Blättern Willy Brandts Entspannungspolitik geißelte. „Hätten wir gegen Springers Dauerbeschuß keine Unterstützung gehabt, hätten wir unsere Ost-Politik aufgeben müssen“, sagte dazu Egon Bahr.

Immer wieder legte sich Nannen mit Kirche, Justiz und Politik an. Titelgeschichten wie „Ich habe abgetrieben“ lösten die Diskussion um den Pragraphen 218 aus, für den Abdruck eines abgehörten Telefongesprächs zwischen Helmut Kohl und Kurt Biedenkopf wurde „Sir Henri“ vom Presserat gerügt. Eine Spendenaktion für die Dürre- Opfer in Äthiopien brachte innerhalb weniger Monate 22 Millionen Mark ein.

Schaut man sich den Stern von heute an, wird deutlich, wie wichtig Henri Nannen für Gruner+Jahr war. Nach seiner dreißigjährigen Amtszeit als Chefredakteur (bis 1980) stürzte das Blatt in eine Krise, die sich nicht nur im permanenten Wechsel der Chefredaktion ausdrückte, sondern am 25. April 1983 mit dem größten Presseflop der Nachkriegszeit ihren Höhepunkt fand. Für die Veröffentlichung der gefälschten Hitlertagebücher war Nannen zwar nicht mehr selbst verantwortlich, gleichwohl machte er sich schwere Vorwürfe: „Hätte ich meinen Vorstandsposten aus Protest niedergelegt, wäre die Veröffentlichung unterblieben.“

In den letzten Jahren gehörte der Mann, der früher Briefe an die „lieben Sternleser“ schrieb, nicht einmal mehr selbst zu denen. Nach eigenem Bekunden interessierte ihn die gebeutelte Zeitschrift nicht mehr – seinen ganzen Elan widmete er der von ihm 1986 gegründeten Kunsthalle in seiner Heimatstadt Emden, deren Ehrenbürger er 1989 wurde.

Gut möglich, daß Henri Nannen mit seinem gesellschaftlichen Engagement so manche Scharte aus seiner Vergangenheit auswetzen wollte: So schrieb er nach seinem Studium der Kunstgeschichte an der Universität München zeitweise für verschiedene NS-Publikationen – u.a. drei „Bewährungsartikel“, in denen er den Expressionismus als „die Kunst des vom Führer erneuerten Deutschlands“ pries. Sollte dem so sein, ist es ihm überzeugend gelungen. Oliver Gehrs