Der Traum vom Job an der Opelwerkbank

Autoriese investiert im oberschlesischen Gleiwitz. Beim Spatenstich blieb die Prominenz unter sich  ■ Aus Gliwice Gabriele Lesser

Die roten Quasten auf den Bergmannskappen der Musiker wippen im Wind. „Täterätätä“, bläst es über den Acker. Klaus Kinkel ist angekommen. „Täterätätä“, auch der Staatspräsident Polens Alexander Kwasniewski erhält einen Tusch. Und als aus den dunkelblauen Limousinen auch noch piekfein gekleidete Manager aussteigen, pusten die Blechbläser der Bergwerkskapelle von Gliwice/Gleiwitz noch einmal kräftig in ihre Trompeten und Posaunen. Auf dem Acker steht ein weißes Zelt mit großen Fenstern. Vor dem Podium ist säuberlich ein rechteckiges Erdloch ausgehoben. Braune, fruchtbare Ackererde duftet. Kein Unkräutlein ist zu sehen. Sieben Staatsmänner und Manager treten kurz ans Mikrophon: „Versöhnung“ schallt es durch den Raum, „Völkerverständigung“, „Europäische Union“ und „Zukunft“. Die dreihundert Gäste applaudieren höflich. Dann stellen sich die Redner vor dem Erdloch auf. Jeder erhält einen nagelneuen Spaten. Die feinen Herren lächeln energisch und tatendurstig in die Fernsehkameras und Fotoobjektive. Dann: der Stich in die Erde, das Braune liegt auf dem Schäufelchen, doch jetzt – wohin damit? Kinkel erfaßt die Situation als erster. Entschlossen schüttet er die Erde dem polnischen Industrieminister vor die Schippe. Das Werk ist getan. Kinkel reibt sich zufrieden die Hände und guckt triumphierend in die Runde. Fernsehkameras surren, Blitzlichter gleißen. Das Bild wird um die Welt gehen: der symbolische Spatenstich für das neue Opelwerk in Gleiwitz.

1.000 Stahlkochern droht die Arbeitslosigkeit

Das oberschlesische Industrierevier leidet schon seit Jahren unter einer Strukturkrise. Die meisten Bergwerke und Stahlhütten stecken in den roten Zahlen. Das Gespenst einer drohenden Massenarbeitslosigkeit geht um. Das geplante Opelwerk in Gleiwitz, eine Investition von General Motors in Detroit und der Adam Opel AG in Rüsselsheim in Höhe von 470 Millionen Mark, weckt verhaltene Hoffnungen. Im Werk selbst sollen 2.000 Arbeitsplätze entstehen, mit den Zuliefererbetrieben, die sich in und um Gleiwitz ansiedeln werden, sollen es um die 20.000 bis 30.000 werden.

Im Arbeitsamt an der Zygmunt- Starego-Straße herrscht gähnende Leere. Auf den Holzbänken in den riesigen Wartesälen sitzt niemand. Nur zwei ältere Frauen und ein Jugendlicher stehen vor einem schwarzen Brett und studieren die Stellenanzeigen.

Friseure werden gesucht, Elektrotechniker und Verkäuferinnen für Wurst und Käse. „Wir haben hier eine Arbeitslosigkeit von rund sechs Prozent. Das ist für die Region wenig. Noch sind die beiden Bergwerke in Gleiwitz nicht bedroht, die 1.-Mai-Hütte steht aber vor dem Aus. Dann werden rund 1.000 Stahlkocher auf der Straße stehen.“ Marek Kuzniewicz, der Direktor der Arbeitsamtes für Gleiwitz und Umgebung, sieht für seine bisherigen Arbeitslosen nur eine kleine Chance. „Die meisten sind Ungelernte. Von ihnen wird wohl kaum einer zu Opel gehen. Aber vielleicht können wir sie in den Zuliefererbetrieben unterbringen.“ Der drahtige Mittvierziger hat Opel bereits ein Angebot zur Schulung und Umschulung qualifizierter Facharbeiter vorgelegt. „Wir könnten auch einen Teil der Kosten übernehmen, wenn Opel selbst ausbildet.“ Insgesamt sei er zwar optimistisch, zu Enthusiasmus sehe er aber keinen Grund: „Die Situation ist noch zu unklar. Warten wir ab, wie Opel sich die Zusammenarbeit vorstellt. Noch hat niemand auf mein Angebot reagiert.“ Ein paar Straßen weiter steht ein ehrwürdiges rotes Backsteingebäude. Hier war zu preußischer Zeit das Gericht der Stadt untergebracht. Heute werden hier etwa 1.000 Schüler zum Kraftfahrzeugmechaniker ausgebildet. Nach der Technikerklasse können die Absolventen die Universität besuchen und ihren Ingenieur machen. „Manche studieren aber auch Theologie“, sagt Elzbieta Jarguz, die Direktorin der Schule. „Schließlich entlassen wir jedes Jahr 200 Schüler. Die können nicht alle als Mechaniker in Gleiwitz arbeiten.“

Die Direktorin legt einen Stapel bunt eingebundener Hefte auf die Seite. „Mir ist auch gar nicht klar, ob unsere Schüler für Opel unter- oder überqualifiziert sind. Wir bilden keine Schweißer aus, dafür gibt es zweimal in der Woche Unterricht am Computer. Die Schüler können Motorschäden erkennen und reparieren, sie können Autos auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Bei Opel aber wird wohl am Band gearbeitet. Dafür wären dann unsere Mechaniker überqualifiziert. Als Manager kommen sie wohl auch nicht in Frage.“ Elzbieta Jaguz hebt ratlos die Hände: „Wir haben noch nie für den Westen ausgebildet. Wir wissen gar nicht, was auf uns zukommt. Von Opel hat sich bei uns auch noch niemand gemeldet.“

Im Keller der Schule riecht es nach Maschinenöl und Schmiere. Neben den Werkstätten sitzen elf ältere Schüler in einer „Theorieklasse“ und büffeln für die Abschlußprüfung. Der 20jährige Piotr Pomorski lehnt sich betont selbstbewußt zurück: „Klar wollen wir zu Opel. Wenn die uns dieselben Löhne zahlen wie den deutschen Arbeitern, ist auch alles o.k.“ Die anderen schütteln den Kopf. Einer winkt ab: „Was der wieder erzählt!“ Pomorski läßt sich nicht beirren: „Sind wir vielleicht nur billige Arbeitskräfte? Wir sind genauso qualifiziert wie die Arbeiter in Deutschland, oder?“

Natürlich weiß auch er, daß genau dieser Lohnunterschied den Standortvorteil von Gleiwitz ausmacht. Für die deutschen Unternehmer ist Polen ein Billiglohnland, wo der durchschnittliche Lohn um ein vielfaches niedriger als der deutsche liegt. Daß nun ausgerechnet Deutsche mit einer Großinvestition ins ehemals deutsche Gleiwitz kommen, stört die Schüler nicht. „Die Wirtschaft heute ist sowieso international“, meint Jacek Reiman. „Ob das nun Deutsche sind oder Amerikaner, das ist doch völlig egal.“ Enthusiastisch ist aber auch er nicht: „Wir wissen ja gar nicht, welche Qualifikationen sie verlangen werden. Ob wir für die überhaupt in Frage kommen. Vielleicht machen wir uns ganz umsonst Hoffnungen.“

Über der Ausgangstür der Schule hängt ein großes pastellfarbenes Bild. Zu sehen ist eine breit ausgebaute Straße. Weit hinten am Horizont verschwindet ein blaues Auto, über der Fahrbahn wölbt sich ein Schild und wünscht den Jungmechanikern: „Gute Fahrt!“

Die Hauptstraße der Stadt, früher Wilhelm-, heute Siegesstraße genannt, wird gesäumt von hohen Bürgerhäusern im überbordenden Neorenaissancestil des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Anders als Breslau wurde Gleiwitz während des Krieges nicht zerstört. Aber die Stadt ist in den letzten 50 Jahren grau geworden, zum Teil sogar schwarz. Manche Häuser sehen aus, als seien sie frisch mit Ruß verputzt worden. Die Menschen leben hier im Durchschnitt drei Jahre kürzer als die Krakauer oder Warschauer. Krebs ist eine der Haupttodesursachen. Das oberschlesische Revier ist noch immer eine der größten Dreckschleudern des Landes. Nach einer Studie der Weltbank lebt keine andere Region Europas mit vergleichbarer Bevölkerungsdichte auf so viel Industriedreck: 300.000 Tonnen pro Quadratkilometer. Politiker in den Kommunen wie auch in Warschau haben längst begriffen, daß aus dem schlesischen Goldesel über Nacht ein Moloch werden kann, der das Land wieder um Jahre zurückwirft. Doch an Plänen für eine Umstrukturierung der Region mangelt es, allerdings auch am Willen, den Reichtum, den die Bergarbeiter und Stahlkocher erwirtschaften, im Revier zu belassen und nicht fast vollständig für Warschau abzuzapfen. Da ist die Zusage der Regierung, dem neuen Opelwerk in Gleiwitz in den nächsten zehn Jahren die Steuern zu erlassen, schon ein gewaltiger Fortschritt.

Statt Volksfest Absperrungen und Polizei

Die Steuerbefreiung können auch andere Firmen erlangen, die in der neu geschaffenen „Sonderwirtschaftszone“ investieren wollen.

Opel hat zur Feier des Tages nicht etwa ein Volksfest ausgerichtet und die Gleiwitzer zu Freibier und Würstchen geladen. Im Gegenteil: Die Zufahrtstraßen zum Bauplatz sind abgesperrt. Alle zweihundert Meter steht ein Polizist in Uniform oder Zivil und beobachtet die Fahrzeuge der VIPs, der Fernseh- und der Presseleute, die auf gespenstisch einsamer Straße dem Ort des Geschehens entgegenrollen. Zum „symbolischen ersten Spatenstich“ der Autofabrik hat sich schließlich hoher Staatsbesuch angesagt.

Im Zelt auf der grünen Wiese geht es hochelegant zu. Selbst das Erdloch vor der Rednertribüne ist in Teppich eingefaßt. Den Spaten fest im Blick, tritt der deutsche Außenminister an das Mikrophon: „Auf dem Weg vom Flughafen“, erzählt er leutselig, „sah ich Wegweiser zum Lager Auschwitz, dem Symbol für das schwärzeste Kapitel deutscher Geschichte.“ Hier sei ihm bewußt geworden, „warum Frieden, warum Menschenwürde und europäische Einigung zum Leitmotiv der deutschen Außenpolitik geworden sind. Das ,Nie wieder‘ weist uns den Weg.“

Ein älterer Herr flüstert: „Gut, daß es Auschwitz gegeben hat. Sonst würde Deutschland heute noch immer Krieg führen.“ Ein anderer fragt: „Was hat das mit Autos zu tun? Erzählt er das immer?“ Kinkel überhört die Kommentare. Außerdem hat er noch zwei historische Symbole in petto: „Gleiwitz – der Name ist tief eingegraben in unsere gemeinsame Geschichte: Symbol für den Beginn des Zweiten Weltkriegs.“ Und: „Ich freue mich, daß gerade Gleiwitz zu einem Symbol für die neue Qualität der deutsch-polnischen Beziehungen werden kann.“ Bevor Kinkel zum Spaten greift, läßt er die Gäste noch wissen, daß er von Gleiwitz nach Paris weiterfliegen werde. Denn: „Die deutsch-französische Lokomotive muß dem Zug Europa wieder Dampf machen. Ich würde sogar sagen, Polen muß möglichst bald mit auf die Lok.“

Stunden später leuchtet wieder der große Sendemast von Radio Gliwice durch die Nacht. Hier hatten am 31. August 1939 Himmlers SS-Männer in polnischen Uniformen einen Überfall auf den damals deutschen „Sender Gleiwitz“ fingiert. Mit diesem „Grenzzwischenfall“ hatte Hitler seinen Kriegsanlaß. Die Gleiwitzer haben in der Radiostation ein Museum eingerichtet. Und den eleganten Sendemast nennen sie mit unverhohlenem Stolz „Kleiner Eiffelturm“. Aber das wissen natürlich weder die Opelleute noch ein Herr Kinkel auf dem Weg nach Paris.