Integration als Schlagwort

Solange Integration der MigrantInnen von der dominierenden Gesellschaft verteilt wird, befinden sich alle Beteiligten in der Sackgasse, meinen  ■ Waltraud Schwab und Riza Baran

Ein Wort allein schafft ideologische Unterschiede bei seiner Benutzung nicht aus der Welt. Je nach Interessenlage hat „Integration“ eine ganz unterschiedliche Bedeutung. Deutlich wird dies an den parteipolitischen Positionen. Die konservativen DenkerInnen avisieren damit eine eingleisige Entwicklung, die die nichtdeutsche Bevölkerung zur Identifizierung mit der deutschen Kultur, Sprache, Gesellschaft führt. Die Positionen der Grünen, aber auch – mit gewisser Einschränkung – die der Liberalen verstehen Integration als einen bilateralen Prozeß. Dabei soll die Kultur des Herkunftslandes als auch die des Landes, in dem der Migrant/die Migrantin den Lebensmittelpunkt gefunden hat, in einen konstruktiven Austausch gebracht werden. Die Sozialdemokraten lavieren dazwischen, je nachdem welche politische Position welchem spontanen Zweck am meisten zugute kommt.

Wer „Integration“ wirklich verstehen will, benötigt vor allem eins: eine Großzügigkeit des Denkens und die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen. Wer sich in der BRD nicht neugierig und offen mit der Präsenz der Nichtdeutschen auseinandersetzt, wird – ohne sich dessen je bewußt zu werden – keinen Zugang zu Kommunikations- und Lebensstrukturen fast eines Zehntels der Bevölkerung bekommen.

Wortfetzen zieren ein Haus am Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg: „-müșmüșsünüz, -mișmișsin, -müștük, -müșlerdi, -müșlermiș, -mișmișsiniz“ ist da unter anderem zu lesen. Im besten Falle wird die Vokalharmonie in den sonderbaren Buchstabenkompositionen auffallen? Ist das Dada? Automatisches Schreiben? Nichts ist unmöglich! Tatsächlich aber handelt es sich dabei um Grammatikendungen der türkischen Sprache. Und sie bedeuten in etwa: „Sie hätten das oder jenes gemacht; du hast das angeblich getan; das hatten wir ja schon ...“ Menschen aus der Türkei fühlen sich durch dieses Haus „in der Sprachlosigkeit sichtbar gemacht“. Und Deutsche?

Wahrnehmung mit Hilfe kultureller Unterschiede zu erweitern verweist ins Experimentelle. Die arabische Schrift wird von rechts nach links gelesen. Liest also jemand, dessen erste Sprache arabisch geschrieben wird, das Deutsche automatisch von links nach rechts, oder ist es wie eine zweite phantastische Ebene, die je nach Belieben zusätzlich ins Spiel kommt? „Test the West“ oder „West the Test“? Jugendliche in Frankreich haben nach diesem Muster ihre eigene Sprache erfunden. Aus „femme“ (Frau) wurde „mef“, „fric“ (umgangssprachlich für Geld) wurde zu „crif“. Rapper in Marseille bauen die rückwärtsgesprochenen Worte in ihren rhythmischen Sprechgesang ein. Ist es vermessen, diese „neue Sprache“ mit der arabischen Herkunft vieler Jugendlicher in Frankreich zu verbinden?

Türkischsprechende Menschen erkennen meist schon am Namen einer Person, ob sie kurdisch oder türkisch ist. Ein nicht unwichtiger Unterschied, den Deutsche in der Regel nicht wahrnehmen. Bleibt dies ohne Bedeutung?

Die vielfältigen kulturellen Ausdrucksformen miteinander in Korrespondenz zu bringen, eröffnet ganz neue Ideen. Integration ist ein komplizierter Prozeß, der im besten Fall beide maßgeblich daran beteiligten Gesellschaften bereichert.

Es gibt vier Aspekte, die bei einer gelungenen Integration verwirklicht sein müssen. Da ist zum einen die fremde Sprache und Kultur, die sich ein Nichtdeutscher aneignen soll. Sollen impliziert: „Gebot, Pflicht, Auftrag eines anderen“. Tatsächlich können die vier Modalverben – sollen/müssen/können/wollen – als Indikatoren der vier Aspekte genutzt werden. Sie verweisen allerdings auch auf die ganze Dramatik, die sich hinter den Erwartungen aller Beteiligten verbirgt. Denn von den Bedeutungen, die sich in den Hilfsverben verstecken, hängt ab, ob der „zu Integrierende“ sich die Sprache und Kultur, den Soll-Faktor – auch kognitiver Aspekt genannt –, tatsächlich aneignet.

Eine wesentliche Bedingung für eine gelungene Integration liegt darin, wie die dominierende Gesellschaft die strukturelle Verankerung der Nichtdeutschen ermöglicht. Ist die rechtliche Gleichstellung gewährt, ist der Zugang zu gleichwertigen Berufs-, Einkommens- und Wohnverhältnissen möglich und grenzen Bildungs- und Ausbildungschancen nicht aus, dann sind Grundlagen geschaffen für die freie Entfaltung jedes einzelnen. Die gleichberechtigte rechtliche Stellung könnte also als „Muß-Faktor“ gelten. Der „Kann-Faktor“ der Integration bezieht sich auf die sozialen Kontakte mit allen Bevölkerungsgruppen und auf die Bereitschaft der MigrantInnen, am öffentlichen Leben im Land, in dem sie ihren Lebensmittelpunkt haben, teilzunehmen. Man bezeichnet diesen Aspekt auch als soziale Integration. In der Regel wird es die Minderheit sein, die den Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft aufnimmt und dadurch den Austausch erst ermöglicht. Der Aspekt, der zuletzt aktiviert werden kann, ist die identifikative Integration, der Will-Faktor. Man versteht darunter die – im günstigsten Falle freiwilige – Aneignung des Wertesystems der Aufnahmegesellschaft.

Ohne kognitive, strukturelle und soziale Integration aber wird es keine identifikative Integration geben. Gerade konservative PolitikerInnen müßten begreifen, daß sie mit ihrer Gleichsetzung von Integration und Assimilation einen Prozeß an seinem Ende aufzäumen und daß dies unter keinen Umständen gelingen kann.

Solange Integration als Luxus begriffen wird, der von der dominierenden Gesellschaft verteilt werden kann, der die kulturelle Vielfalt, aus der ein Nichtdeutscher schöpft, nicht schützt und den Wert eines Menschen durch rechtliche Ungleichbehandlung nicht anerkennt, befinden sich alle Beteiligten in einer Sackgasse. Denn die so Nicht- Integrierten werden sich dann – um Identität und Selbstfindung bemüht – fast gezwungenermaßen an Wertvorstellungen ihres Herkunftslandes orientieren, deren aktuelle Entwicklung sie jedoch nur noch über die Medien und das Hörensagen kennen. Die mehreren Millionen Spendengelder aus der Bundesrepublik Deutschland an die islamistische Refah-Partei in der Türkei sind ein deutlicher Hinweis.

Eine gelungene Integration verschiebt sowohl die Wahrnehmung der BewohnerInnen des Aufnahmelandes hin zur Lebensrealität der MigrantInnen als auch umgekehrt. Denn der Muß-Faktor fällt nicht ausschließlich in die Verantwortung der Gesellschaft des „neuen“ Landes, der Kann- und Will-Faktor nicht nur in die der MigrantInnen und der Soll-Faktor sollte sich ohnehin in seiner Anmaßung entlarven. Die Lebenssituation der MigrantInnen wird sich insbesondere dann verbessern, wenn sie ihr politisches Engagement auf das Land lenken, in dem sie ihren Lebensmittelpunkt haben.

Verständigung und Verständnis aller „Alteingesessenen“ in den Einwanderungsländern wiederum werden größer, wenn die in die Gesellschaft getragenen „neuen“ kulturellen Ausdrucksformen – nicht nur die kulinarischen – angenommen werden. Integration kann niemals nur ein eindimensionaler Prozeß sein.