Geschlechtstrieb sitzt im Gehirn

■ Sexualforscher bezweifeln den Sinn von Kastrationen. Familienministerin Noltes Vorstoß rührt an ein Tabuthema

Die von Frauenministerin Claudia Nolte (CDU) geforderte chemische Kastration von Sexualstraftätern ist unter Sexualforschern äußerst umstritten. Sie bedeutet, daß der Patient Medikamente erhält, die die Erzeugung des Sexualhormons Testosteron im Körper unterdrücken. Sobald das Medikament abgesetzt wird, stellen sich die natürlichen Funktionen wieder ein – daher gilt den Befürwortern die Methode als relativ harmlos. Kritiker verweisen jedoch darauf, daß sexuelle Straftaten keineswegs ausschließlich hormonell oder triebhaft bedingt sind und selbst die chirurgische Kastration nicht zwangsläufig zu Impotenz führe. Der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch weist in seinem Buch über „Sexuelle Störungen und ihre Behandlungen“ darauf hin, daß „beim Menschen der Körper in der Seele und diese im Körper niedergeschlagen ist. Daher bleibt beispielsweise das operativ entfernte Glied repräsentiert, macht sich weiterhin als ,Phantom‘ mit physisch empfundenen Sensationen bemerkbar. Um die Sexualität eines Menschen mit Sicherheit vollkommen zu beseitigen, müßte der ganze Sexualkörper (und damit der Mensch selbst) beseitigt werden.“

Im Nachkriegsdeutschland ist die Kastration fast ein Tabuthema. Folge der NS-Zeit, in der nach bisheriger Kenntnis mindesten 2.800 „Sittlichkeitsverbrecher“ zwangsweise oder „freiwillig“ kastriert wurden, so Sigusch. Schon 1969 allerdings führte die Bundesrepublik ein Gesetz über die „freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden“ ein, das neben einer medizinischen auch eine kriminologische Indikation kennt. Genehmigt werden muß der Eingriff von einer Gutachterstelle bei einer Landesärztekammer. Jährlich kommen auf etwa 7.000 Verurteilungen wegen Sexualverbrechen etwa sechs freiwillige Kastrationen. Der Sexualgutachter Eberhard Schorsch meinte einmal, Kastration sei keine sinnvolle Therapie, da es nicht um einen zu hohen „Triebdruck“ gehe, sondern um eine hochkomplexe psychische Dynamik. Er verweist darauf, daß die oft brüchige männliche Identität der Seuxalstraftäter mit entsprechenden Ängsten einhergehe. Die operative „Entmannung“ treffe mitten in diese Wunde und bediene eventuell sogar die Bestrafungswünsche der Täter. Auch der Berliner Psychiater Wilfried Rasch bezweifelt den Sinn der Kastration: „Das wichtigste Geschlechtsorgan ist das Gehirn.“ Karin Gabbert