Die nicht endende Rede

Mit eigener Stimme sprechen lernen: Rudi Dutschkes Leben, von seiner Frau Gretchen erzählt – eine Einladung zur Zeitreise in die Revolte  ■ Von Jörg Lau

Dieses Buch ist ein paradoxes Unternehmen: Wenn es ein literarisches Genre gibt, das man mit Recht als „bürgerliche Kunstform“ bezeichnen darf, dann wohl die Biographie, diese Feier des Individuums. Wenn irgendwer in der Geschichte der Bundesrepublik den Titel eines Bürgerschrecks mit Recht getragen hat, dann Rudi Dutschke, der charismatische Studentenführer.

Wer seine Biographie schreibt, steht also, bevor noch ein Satz zu Papier gebracht wurde, vor dem Problem, daß sie der Form nach den tiefsten Überzeugungen ihres Helden widerspricht: „Als revolutionäre Marxisten wissen wir, daß die Geschichte nicht durch große Personen, sondern durch die konkreten Individuen der Klassenkämpfe, Klassenorganisationen und der diese objektiv vorantreibenden sozialökonomischen Stufe in der Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt wird.“

So spricht der Held dieser fast fünfhundert Seiten im Jahr 1971. Gretchen Dutschkes Buch ist ein einziger Widerspruch gegen dieses allzu bescheidene Credo, wenn auch die Autorin ihn niemals explizit macht. Wer ihr aber bis hierhin gefolgt ist, kann überhaupt keinen Zweifel daran haben, daß Rudi Dutschke eine geschichtsmächtige „große Person“ war, während die operettenhaften „Klassenorganisationen“ der frühen siebziger Jahre, in denen Dutschke nicht mehr heimisch wurde, alles taten, um eben jenes „revolutionär marxistische“ Geschichtsbild in ihren farcenhaften Abgrenzungskämpfen endgültig ad absurdum zu führen. So kann es gehen: Wer sich mit der Dialektik einläßt, darf sich nicht wundern, wenn dieses untreue Biest sich im Zweifelsfalle die Freiheit nimmt, gegen ihn auszuschlagen.

Ein langer Abschied von gestern

Warum überhaupt noch eine Dutschke-Biographie? Es gibt ja schon eine sorgfältig recherchierte, umfangreiche Studie von Ulrich Chaussy („Die drei Leben des Rudi Dutschke“, Luchterhand 1983), auf die sich auch Gretchen Dutschke manches Mal bezieht. Dem Gerüst der biographischen Fakten, das Chaussys Buch stützte, hat Gretchen Dutschke wenig hinzuzufügen. Eine große theoretische Revision des Wirkens ihres Mannes durfte man von der Theologin und Ernährungswissenschaftlerin nicht erwarten. (Wer würde so etwas auch lesen wollen?) Sie eine packende Erzählerin zu nennen, hieße ihr über die Maßen zu schmeicheln – um es ganz vorsichtig auszudrücken. So wäre dieses Buch also ein weiteres Erinnerungsalbum, an dem sich sentimentale alte Kämpen an den kommenden langen Winterabenden wärmen könnten? Auch dies. Aber an den entscheidenden Stellen ist es ein entschlossener Abschied von der Revolte, ein letzter Blick zurück auf eine vollendete Episode der Geschichte, wie zahlreich auch immer ihre Nachwirkungen sein mögen.

Der stark dokumentarische Charakter des Buchs – seitenweise werden Dutschkes Tagebücher, Briefe, Notizen, Interviews und Redetexte zitiert – ist eine kompositorische Notlösung. Für jüngere Leser wird es dadurch zu einer wahren Zeitmaschine, die die Reise in eine bizarre, untergegangene Welt ermöglicht. Wenn man die Mühe auf sich nimmt, gegen den Strich zu lesen, wird hier vieles sichtbar, das Ulrich Chaussy aus seiner mehr staatsmännischen Perspektive, der private Auskünfte als „Voyeurismus“ gelten, nicht in den Blick bekommen konnte. Gretchen Dutschke, auch dies eine Erbschaft jener glorreichen Tage, in denen ihr Mann zur Ikone der Rebellion wurde, zeigt keine großen Reserven bei der Aufdeckung intimer Details, selbstverständlich alles im wohlverstandenen Geiste des antiautoritären Kampfes gegen kleinfamiliär-privatistische Verkrustungen. Die Jüngeren werden die Offenherzigkeit ein bißchen peinlich finden. Aber eben auch interessant.

Gretchen Dutschkes Kindheitsschilderung stellt das Leben ihres Mannes zurück in den Horizont der Kriegs- und Nachkriegssituation in Deutschland. Rudi, geboren 1940 in Abwesenheit des Vaters, wächst in enger Bindung an die Mutter auf. Die Urszene der vaterlosen Kindheit, das brutale Eindringen eines „Besuchers“ in die Mutter-Kind-Symbiose, hat er später Peter Paul Zahl erzählt: „Ich traf meinen Vater Ende 1943, war mir seiner natürlich nicht bewußt, schließlich trieb er sich, oder mußte sich treiben lassen, irgendwo herum. Jedenfalls war ich in den Armen der Mutter, da stand ein Besucher plötzlich neben uns, lachte und wollte mich ,so mir nichts, dir nichts‘ in die Arme nehmen, jedenfalls bekam er von mir einen echten Backenschlag, war so eine automatische Re-Aktion.“ Der Vater stellte zwar die angezweifelte Autorität „durch nicht zu vergessende Hiebe auf den Arsch“ kurzfristig wieder her. Aber er blieb doch ein geduldeter Besucher, und an der schließlichen Entwertung seiner Weltsicht, die ihn als Freiwilligen in den Krieg getrieben hatte, konnten Schläge nichts ändern.

Antiautoritärer ohne Autoritäten

So steht eigentlich keine fixe Autorität, gegen die man rebellieren müßte, am Beginn des Lebens dieses nachmaligen Anführers der Antiautoritären. Nach dem Krieg ist vielmehr die väterliche Welt ganz und gar diskreditiert und entmachtet – im Gegensatz zu der integren mütterlichen Welt protestantischer Frömmigkeit. Seinen jugendlichen Pazifismus, der ihn in der DDR zum Dissidenten machte, hat er nie prinzipiell, sondern immer mit Bezug auf die Mutter begründet: „Mutter hat uns vier Söhne nicht für den Krieg geboren.“ „Mutter lehnte es ab, ihren Sohn im Betriebs-Anzug (Armee) zu sehen.“

Der einstige Eindringling lebte dann als Kriegsverlierer in seiner Familie, und sein Sohn stellte sich „die Frage nach den Verantwortlichen des Zweiten Weltkrieges. Meine christliche Scham war so groß, daß ich es ablehnte, weitere Beweisdokumente zu lesen, und mich mit einer allgemeinen Erkenntnis zufrieden gab. Der Sieg und die Macht der NSDAP, das Entstehen des Zweiten Weltkrieges ist von dem Bündnis zwischen NSDAP und den Reichen (Monopolkapital) nicht zu trennen.“ Das verschuf dem jungen Rudi eine gewisse Entlastung, denn zu den Reichen (Monopolkapital) gehört die Familie Dutschke aus dem märkischen Luckenwalde beileibe nicht. Aber die Konstruktion war doch zu fadenscheinig, und so floh er in ein bewährtes Schema, das moralische Entschuldung und phantastisch-rätselhafte Erhöhung zugleich gewährleistet. In der Psychoanalyse ist es als „Familienroman“ (Freud) beziehungsweise „Mythos von der Geburt des Helden“ (Rank) bekannt: „Die Schande war unermeßlich groß. Um sich davon distanzieren zu können, bildete er sich ein, daß er ein Jude sei, den die Dutschkes bei sich versteckt hätten. Diese Einbildung stützte er auf die Tatsache, daß er beschnitten war.“

Das Urbild für diesen Familienroman ist übrigens in unserer religiösen Mythologie die Erzählung von der Kindheit des Moses, des archetypischen politischen Führers, der sein Volk im Exodus aus der ägyptischen Gefangenschaft führt. Der Exodus wiederum ist ein Urschema aller revolutionären Befreiungsbewegungen, untergründig auch der marxistischen, die in Rudis späterem Leben eine so große Rolle spielen sollten. Aber hier enden die Parallelen, denn anders als der schwerfällige Moses, der sich mit seinem gelehrten Bruder Aron behelfen mußte, brauchte Rudi niemanden, der an seiner Statt zu Volk und Pharao redete. Das war sein Triumph: Rudi Dutschke lernte selbst zu sprechen. Er würde einer werden, der mit eigener Stimme sprach und der eben darum von jenen geliebt wurde, die sich das noch nicht trauten. Rudi Dutschke, das war eine Stimme.

Der Schriftsteller Reinhard Lettau, kurzzeitig ein Weggefährte, hat Dutschkes eigenartige Weise, in byzantinischen Relativsatzgewittern zu reden, in einem kleinen mimetischen Text („Bildnis Rudi D.“) porträtiert: „Er spricht beim Schreiben, schreibt, während er spricht. Dabei hört er zu, was die andern sagen. Also das Zuhören, in diesem überfüllten Zimmer, stört ihn beim Schreiben, das ihn beim Sprechen stört, das ihn beim Zuhören stört. Da aber dringend alles auf einmal getan werden muß, tut er alles auf einmal, die andern lernen es bald, daß das gerade Geschriebene durch das gerade Gesprochene, das es verändert, überholt wird, aber nicht unnötig, da das danach Gesprochene oder neu Geschriebene oder Gehörte, das Neues bringen kann, das vorige noch braucht, ihm womöglich wieder weichen muß als einem Neuen, d. h. eben zutreffende Vorgänge werden von unerbetnen oder unerwarteten oder unbedachten verdrängt, d. h. jeden Schritt muß er verlängern oder sofort unterbrechen können, so daß er also so lebt, daß er an einer unendlichen, nicht endenden, sich immer verändernden, sich nach vielen Seiten stärkenden Rede arbeitet, die umgebende, erkennbare Veränderungen mit aufnimmt, von der er manchmal kurze Strecken, auf

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dem Podium stehend, von anderen unterbrochen, atemlos mitteilt, daher die Relativsätze bei ihm, der, da sein Angriff vor allem darin besteht, daß es ihn gibt, gewinnt, indem er bleibt, bleibt, indem er redet, redet, indem er schreibt, schreibt, indem er zuhört, ein gefährlicher Gegner.“

Die Legende will es, und es gibt keinen Grund, an ihr zu zweifeln, daß Rudi das Reden durch die Imitation von Radiosportreportern lernte. Das war in den fünziger Jahren in der DDR. Zehn Jahre später war seine eigene, unendliche, sich nach vielen Seiten stärkende Rede ein Ereignis, zu dem die Reporter anreisten. Am 11.April 1968 wird Rudi Dutschke von einem gewissen Josef Bachmann gestellt und in den Kopf geschossen. Die Hirnverletzungen affizieren vor allem sein Sprachzentrum. Er muß neu Lesen und Sprechen lernen.

Das Verschwinden der Öffentlichkeit

Es sind Politikernamen, anhand derer er die Sprache zurückgewinnt; er kann sich zuerst an Trotzki erinnern: „Sein Sprachverlust im Bereich der politischen Begriffe war minimal“, schreibt seine Frau. Eine große Angst hält ihn lange Jahre davon ab, öffentlich aufzutreten. Als er die Redefähigkeit wiedergewonnen hat, gibt es die linke Öffentlichkeit nicht mehr, deren Held er war. Die zersplitterten kommunistischen Mummenschanzgruppen bevorzugen die Hinterzimmer für ihre Abgrenzungskämpfe. Während Dutschke noch in seiner Doktorarbeit versucht, „Lenin auf die Füße zu stellen“ (Verlag Klaus Wagenbach, 1974), haben sich seine Adressaten, die Ex-Genossen aus SDS-Tagen, schon längst von den offenen Theoriedebatten abgewandt und, wenigstens in ihren Phantasien, an die Machtpole in Moskau und Peking angekoppelt. Übrigens ist Dutschke schriftlich im gleichen Maße unerträglich, wie er als Redner zu faszinieren vermag. Das Buch über Lenin gibt die Qualen, die es den Verfasser gekostet hat, ungemildert an den Leser weiter. Es war ihm nicht gegeben, zu schreiben, ohne zu sprechen.

Seine wenigen öffentlichen Auftritte sind jetzt nicht mehr gezielt scharf und provokant, sondern manchmal täppisch und störrisch, daß es sogar alte Freunde graust. Am Grab von Holger Meins reckt er die Faust in die Kameras und sagt den berühmten Satz: „Holger, der Kampf geht weiter.“ Als nicht nur Bild, sondern auch FR und Spiegel die törichte Geste kritisieren, bemüht er sich ungeschickt um Richtigstellung: Es war mehr so allgemein im Sinne der „unerläßlichen Sponti-Kraft“ gedacht gewesen. Am Grab von Ernst Bloch 1977 brüskiert er die Trauergäste durch einen Exkurs über den ermordeten Bankier Jürgen Ponto, den er „einen hohen Bankspekulanten“ nennt, „eine gesellschaftlich austauschbare Charaktermaske des Kapitals“. So redeten damals viele daher, und nun bediente eben auch Dutschke den Zeitgeist der schnoddrigen Inhumanität. Als dann am Ende der depressiven Siebziger nach dem Abebben von Sektierertum und Terrorismus die Grünen gegründet werden, ist er noch ein paarmal wieder dabei. Die Themen kommen und gehen, man ist und bleibt alternativ: Er hat schnell Ökologisch gelernt und spricht es fast schon im gleichen Dutschke-Duktus wie seinerzeit den eigenartigen Rap aus Lukács, Marcuse und Lenin. Er arbeitet jetzt noch einmal weiter an seiner sich immer verändernden Rede. Und dann stirbt er plötzlich, am Weihnachtsabend des Jahres 1979, durch die Spätfolgen jenes Attentats.

Das ist der eigentliche Kern der Geschichte dieses Lebens: die errungene, die geraubte und die wiedergewonnene Rede. Ich möchte den unter Dutschkes erbittertsten ideologischen Gegnern sehen, der dieser Geschichte seinen Respekt verweigern würde – auch wenn er vielleicht die Folgen dieses Triumphes bedauert, denn seit Dutschke den Mund aufgemacht hat, reden alle wild durcheinander und scheren sich nicht mehr um die Moderatoren. Es gehört zu den tragischen Ironien dieses Lebens für die öffentliche Rede, daß ausgerechnet sein natürlicher Verbündeter in der Philosophie, der Theoretiker des herrschaftsfreien Diskurses und der kommunikativen Kompetenz, Jürgen Habermas, auf dem Höhepunkt der Bewegung zum Gegner wurde. Auf dem Hannoveraner Kongreß im Juni 1967 nach dem Tod von Benno Ohnesorg beschuldigte Habermas Dutschke in effigie des „linken Faschismus“. Außer diesem hysterischen Etikett – aber damals waren ja alle Seiten forsch mit dem Faschismus zur Hand – stimmte alles an der Habermasschen Kritik der studentischen Strategie: Der Versuch, den „latenten Faschismus“ der Gesellschaft bewußt herauszukitzeln, damit er sich in manifester Gewalt zeige, war eine unkontrollierbare, eine eschatologische Politik des „Je schlimmer, desto besser“, die vor allem eins verriet – heillose Selbstüberschätzung der jungen Revolutionäre. Nicht daß man ihnen das alleine in die Schuhe schieben konnte. Es war auch ein Rückkoppelungseffekt der Medien, an dem der verläßliche große Feind, die Springer- Presse, den größten Anteil hatte.

Hier liegt der größte Mangel dieses Buchs: Die streckenweise unerträglich verblasene Wichtigtuerei in den Äußerungen Rudi Dutschkes aus der heißen Phase der Revolutionseuphorie wird mit heiligem Respekt wiedergegeben. Das mag daran liegen, daß er so jung – mit nur achtundzwanzig Jahren! – zu einem Opfer wurde und damit der Kritik auf Augenhöhe entzogen war (wenn er in seinem Enthusiasmus dafür denn je zugänglich war). Aber die Folgen für diese Biographie sind doch fatal, denn sie verfällt stellenweise einer unfreiwilligen Komik. So wird seitenweise lammfromm aus Strategiediskussionen zitiert, als handele es sich um die Akten eines Kirchenkonzils: „Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen. Die Universität bildet seine Sicherheitszone (...), in der er und von der aus er den Kampf gegen die Institutionen, den Kampf um den Mensagroschen und die Macht im Staate organisiert.“ Heute gehört uns die Mensa und morgen die ganze Welt! Aber vorher wird noch der Parlamentarismus abgeschafft, die „scheinliberale“ Freiheit der Wissenschaft kassiert, die Nato mit gezielten Anschlägen aus Europa herausgebombt, damit eine friedliche Wiedervereinigung der Deutschen unter dem Zeichen des antiautoritären Sozialismus möglich werde... Oder soll man besser gleich in einem kühnen Coup die Macht ergreifen?

Hoffnung auf politisierte Hausfrauen

Am 24. und 25.Juni 1967 trafen sich die Herren Dutschke, Schneider, Semler, Rabehl, Lefèvre und Müller-Plantenberg in Pichelsdorf, um einen konkreten Plan aufzustellen, wie sie Berlin überrumpeln würden, räterevolutionsmäßig. Ein Mieterstreik durch „politisierte Hausfrauen“ würde dabei den Anfang machen, und der Gipfel wäre dann „die Blockierung der Springer-Zeitungen“, denn dies, so glaubte man, „trifft einen Lebensnerv dieser Gesellschaft“. Gretchen Dutschke berichtet über diese späten Knabenphantasien, als wäre die beabsichtigte Räteregierung zwar in jener Situation unrealistisch, aber eigentlich doch recht wünschenswert gewesen.

Das ist alles lustig zu lesen, zumal mit der Gnade der späten Geburt. Aber wenn der grobe Unfug dieser Reden und Welterlösungspläne von Gretchen Dutschke nicht wenigstens einmal beim Namen genannt wird, verdichtet sich der Eindruck eines andauernden Realitätsverlusts. Vielleicht ist es auch nur Pietät und Ängstlichkeit, daß die große Person Dutschke beschädigt werde. Dies ist allerdings unbegründet, denn es wird doch die eine Sache von solcher Revision völlig unberührt bleiben, für die man Rudi Dutschke noch lange verehren wird, wenn der gestelzte marxologische Angeberjargon jener Tage endgültig unverständlich geworden sein wird: der Protest gegen den Vietnamkrieg „im Namen des wahren Amerika“, den er mit seiner Stimme zu einer Sache der Massen gemacht hat.

Gretchen Dutschkes Zurückhaltung berührt gerade deshalb eigenartig, weil sie doch genug Gelegenheit gehabt hat, unter dem männerbündischen Charakter der revolutionären Zusammenrottungen der sechziger Jahre zu leiden. Was sie von Teilen der Genossen zu erdulden hatte, erinnert an die Abwehrkämpfe, in die Yoko Ono verwickelt wurde, als die Peer Group sich gegen sie und John Lennon erhob, um sich vor dem drohenden Zerfall durch weibliche Infiltration zu retten. Vor allem Dieter Kunzelmann scheint sich durch ziemlich widerwärtiges, kulturrevolutionär aufgemotztes Mobbing hervorgetan zu haben. Es wurden regelrechte Tribunale abgehalten, um den durch seine Ehe abtrünnig gewordenen Rudi weg von Gretchen und wieder zurück auf den wahren Weg der Subversion zu lotsen. Aber auch der heiligmäßig sanfte Revolutionär selber zeigte seiner Liebsten gelegentlich die Instrumente, wenn sie ihm zu nahe auf den Leib rückte.

Als die Ankunft des kleinen Hosea Che bereits absehbar war, las er dem schwangeren Gretchen folgendes Zitat des großen Che vor: „Ein Mensch, der sein ganzes Leben der Revolution weiht, kann sich nicht ablenken lassen durch den Gedanken an das, was einem Kind fehlt, an seine abgetragenen Schuhe, an das Allernotwendigste, was seiner Familie fehlt. Wenn er sich von diesen Sorgen heimsuchen läßt, schafft er einen günstigen Boden für die Entwicklung der Korruption.“

Charmant, charmant. Hier zeigt sich noch ein Vorteil der Revolution für die Jungs: Jetzt konnte man die gewöhnliche Angst vor der allesverschlingenden Frau (nach dem Bilde der immer noch unangreifbaren symbiotischen Muttergestalt aus den Kriegsjahren) als revolutionäre Pflicht zur Bindungslosigkeit umdeuten. Gretchen Dutschke berichtet das mit einer Sanftmut, die einem den Kragen platzen lassen könnte.

Immerhin, sie berichtet es. Als Rudi einmal eine Affäre hat, schreibt er ihr davon in diesen dürren Worten: „So ist der Sexualverkehr ein lustreicher oder nicht lustreicher Arbeitsprozeß, jeder Versuch, es als Spiel zu bezeichnen, ist falsch, weil der Doppelcharakter der Arbeit unter den Bedingungen der Warengesellschaft unbeachtet bleibt. Die sexuelle Arbeit scheint mir aber dadurch geprägt zu sein, alle die besonderen Schwierigkeiten sind daraus ableitbar.“

Das ist komisch in seiner aufrechten Streberhaftigkeit und zugleich traurig in seiner tapferen Angestrengtheit. An solchen Stellen wird sichtbar, welch ungeheure Schufterei die Veränderung der Lebensverhältnisse war, von der wir immer noch profitieren. Noch der kleinste Hedonismus mußte mühsam erarbeitet werden. Es war ein weiter Weg von Luckenwalde zu unserem Bohemia für alle. Man vergißt das zu leicht. Rudi, der Kampf geht weiter.

Gretchen Dutschke: „Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Rudi Dutschke. Eine Biographie“. Kiepenheuer & Witsch, 512 Seiten, geb., 48DM