Beim Cousin vom Cousin

Als „Individualtouristin“ mit Rucksack und Guide ins wilde Gebirge Albaniens. Der Norden ist selbst im eigenen Land noch ein weißer Fleck  ■ Von Silvia Plahl

Gazi – English speaking – führt mich in Tirana durch ein düsteres Treppenhaus zu dem Reisebüro Ecotour. „Willst du nicht lieber auf eigene Faust losfahren?“ fragt er später im Café. „Ich könnte dich begleiten.“ Prüfend schaue ich dem jungen Studenten in sein scharfkantiges Gesicht. Er hat mich nicht gefragt, ob ich ihm aus dem Land helfen könnte. Nach zwei Tagen Diskussion und Strategieplanung ist Gazi engagiert als mein Dolmetscher, Guide und Guard für eine Rucksacktour ins wilde Gebirge im Norden Albaniens.

Die Freunde in Tirana wünschten mir viel Glück. Gruselige Geschichten erzählt man sich in der Hauptstadt von den Landsleuten in den Bergen. Auch nach dem Ende von 40 Jahren Isolation ist in dem kleinen Staat an der Adria der Norden im eigenen Land noch ein weißer Fleck. Während die StädterInnen in Riesenschritten – mit Kiosken, Cafés und Satellitenschüsseln – dem Kapitalismus nachstreben, herrscht dort oben in den Bergen ein eigenes Gesetz. Von außen wird es wahrgenommen als Sippenkrieg mit Blutrache. Die Medien melden Überfälle und Morde. Es hat einen Namen: „Kanun“. Diktator Enver Hodscha hat diesen Sitten- und Moralkodex verboten und unterdrückt. Jetzt blüht er wieder auf.

Wir starten mit dem Sammeltaxi. Zwölf Menschen, die meisten in Badelatschen, quetschen sich in einen ausrangierten Mercedes- Kleintransporter. Nach 30 Kilometern erreichen wir die erste Steigung. Hodschas „Pockennarben“ – halbrunde Zwei-Personen-Betonbunker, mit denen er das Land übersät hat – werden rar. Ziegen wackeln gemütlich über die Straße. Die alte Frau neben mir, die zum ersten Mal in einem Auto Verwandte besuchen fährt, übergibt sich. Sie beschert uns noch fünf weitere Stopps – mit grandiosen Ausblicken auf saftiggrüne, langgezogene Bergketten und dichte Kiefernwälder.

Es wird ein glücklicher Tag. „Glückliche Tage“ sind nach Einschätzung Gazis die Tage, an denen wir es schaffen, einen seiner Cousins vom Cousin vom Cousin zu finden. Razi heißt er in Kukes. Razi vermittelt Zimmer in der „künstlichen Stadt“, die vor 20 Jahren dem Drini-Kanal ausweichen mußte und aus dem Flußbett hochversetzt wurde. Jetzt drängen sich helle Plattenbauten an kalkweiße Fenster. Dahinter liegt schon der Kosovo. Den besten Blick auf die neuen Eichenplantagen und die neue Moschee hätte man vom Albtourist-Hotel aus, behauptet Fremdenverkehrsprofi Razi. Albtourist, das ist die Hotelkette aus den Zeiten organisierter Kaderferien – die Sozialistische und die Demokratische Partei haben die einst feudalen Häuser inzwischen untereinander aufgeteilt: Privatisierung.

Wir entscheiden uns für die billigere Variante an der Hauptstraße. Es gibt ein Waschbecken im Zimmer und Wasser ab 17 Uhr. Für mich zum Touristentarif von 20 Dollar pro Nacht, für Gazi genügen drei. Als in der Abenddämmerung endlich die Hitze aus der Stadt ist, wird es vor unserem Hotelfenster laut. Minenarbeiter, Landwirte, Bauarbeiter – die Leute von Kukes promenieren zum Feierabend in Massen den Boulevard auf und ab. Dazwischen trottet eine Kuh frei herum. Die Frauen führen Kinder und Sommerkleider aus, in den Café-Bars sitzen rauchend die Gatten. Ich schüttle viele derbe Hände und werde ernst betrachtet. Am nächsten Morgen früh um halb sechs setzt uns Razi an der Kanalfähre ab.

Sechs Stunden. Unter sengender Sonne auf kristallklarem Wasser. In einer rostigen Dieselschleuder, die im Zickzack durch den Drini tuckert. Der Kanal ist auf dieser Höhe die einzige Verbindung zwischen Ost und West. Am Wasserkraftwerk ist Endstation. Wir sind zu langsam, um noch einen Platz im Bus zu kriegen, und müssen in der Mittagsglut in fünf Kilometern das „Hydrocenter“ einmal umlaufen. Sein Vater war hier angestellt, erzählt uns der Glücksbringer des Tages, Gastriot. Fünf Wasserkraftwerke hat Diktator Hodscha über das Land verteilen lassen, alle gebaut mit Hilfe der Freunde aus den sechziger Jahren, den Chinesen, und modernster chinesischer Technik von damals. An diesem hier, weiß Gastriot, haben 10.000 Leute neun Jahren lang gearbeitet. Ende der Siebziger war dann das ganze Hochland Albaniens mit Strom versorgt.

Gastriot lädt uns zu seinen Eltern ein. In einem Pickup-Wrack lassen wir uns unbefestigte Bergpfade bis auf 1.400 Meter über dem Meeresspiegel hochschaukeln. Nach 50 Metern Abstieg breitet sich ein Tal mit roter Erde vor uns aus. Wir sind in Tpla.

Es ist, als brächte Gastriot zwei seiner Geschwister mit. Vor 180 Jahren haben die Vorfahren der Familie Bino dieses Tal besiedelt, sie fanden Humus und Torf und lebten nicht schlecht – von Mais, Getreide und Viehzucht. Uns zu Ehren wird ein Lamm geschlachtet. Ab jetzt gelten die Traditionen der Binos. Vater Ibrahim bittet uns auf ein buntes Plaid ins Gras, neben fein säuberlich aufgesteckte Heureiter. Michela bringt uns Brombeeren. Alte Männer mit beigefarbenem Fes lassen sich barfuß im Schneidersitz neben uns nieder.

Der Putz brökelt vom schäbigen Haus der Binos. Mitten im Wohnzimmer wuchert auf einem weißen Campingtisch ein Kunstrosenarrangement. Wir essen auf dem Fußboden – die besten Böreks von ganz Albanien. Ibrahim fordert mich auf, in der Männerrunde meine Fragen zu stellen. „Wir leben hier nach unseren eigenen Gesetzen“, sagt der Familienchef und zündet sich eine Zigarette an. Die Binos seien Moslems und respektierten den Kanun. „Auch ich habe getötet. Den Mann, der nach einem Streit um ein Feld den Bruder meines Großvaters umgebracht hat. Die Familie des Toten hat dann keine Rache mehr genommen.“ Der Kanun erlaube auch Vergebung. Doch der Kanun sei alt, die neuen Regierungsgesetze zu schwach. Und was vermittelt der Vater seinen fünf Kindern? „Ich kann sie nicht festhalten.“ Drei sind schon in die Stadt gezogen, machen gute Geschäfte.

Am Morgen unserer Abreise kocht Ibrahim in der winzigen Freiluftküche starken Kaffee und macht uns Milch heiß. Ich starte einen letzten Versuch, mich zu bedanken. „Berge verstehen sich auch ohne Worte“, sagt Vater Bino.

Der Drini-Kanal hat uns wieder. Diesmal schieben wir uns an Deck eines großen Transportschiffes durch die Felsenschlucht gen Westen. Die meisten Leute an Bord wollen nach Tirana – nur wir müssen am Ende der Fährstrecke mal wieder zu Fuß weiter und hungrig und durstig erst durch einen Tunnel und dann kilometerweit bis zur nächsten Trinkbude laufen. Wir finden einen Audi-Fahrer, der mit uns zum Wucherpreis die Serpentinenstrecke bis nach Shkoder rast.

Shkoder, die helle, freundliche Stadt an der Grenze zu Montenegro. Ein Wissenschaftler im Afro-Look führt uns durch die volkskundliche Abteilung des winzigen Stadtmuseums. Ich bekomme noch eine Lehrstunde im archäologischen Kabinett: „Typisch albanische“ Statuen, Haarspangen, Münzen sind dort ausgestellt – von Griechen, Römern, Türken, Serben in einer Art Invasionsverkehr im Land einst abgeladen.

Im Künstlercafé „Kafe e madhe“ – dessen Wirt nur französisch spricht – beschließen wir, nicht mehr nach Theth zu fahren. Eigentlich sollte es der Abschluß unserer Reise zu den Gesetzen der Berge sein: Dort gibt es einen der Türme zu besichtigen, in denen die Männer einst Zuflucht suchten, die unter Blutrache standen.