„Der Skandal ist die kollektive Amnesie“

■ Michel Friedman fordert, das Geld Überlebenden oder jüdischen Organisationen zu geben

taz: Wer trägt die moralische Schuld daran, daß erst jetzt verbindlich bekannt wird, daß rund zehn Milliarden Mark von den Nazis gestohlenen Geldes auf Konten vor allem in der Schweiz liegt?

Michel Friedman: Alle Beteiligten wußten und wissen, daß dieses Geld nicht rechtmäßiges und auch nicht treuhänderisch rechtmäßiges Eigentum derjenigen ist, bei denen es deponiert ist. Ganz aktiv und nicht durch Druck und Untersuchungen hätte es von allen Beteiligten, die davon wußten, das Bedürfnis geben müssen, eine Rückabwicklung zum frühestmöglichen Termin zu betreiben.

Das ist für mich die moralische Kategorie: Alle Beteiligten, die davon Kenntnis hatten, hätten nach 1945 von sich aus für eine Lösung, Auflösung und Rückgabe dieser Bestände sorgen müssen. Das Fürchterliche ist, daß nicht von alleine, sondern nur aufgrund von politischem Druck es jetzt endlich Klarheit gibt. Dabei hat es nicht an Bedürftigen gefehlt. Die kollektive Amnesie aller Betroffenen ist der eigentliche Skandal.

Waren die gestohlenen Gelder in der Vergangenheit ein Thema im Zentralrat der Juden?

Immer wieder stellten sich die Fragen zu diesem Komplex. Aber da Konkreteres bisher nicht vorlag, konnte man dies weder im Zentralrat noch in anderen Gremien in Forderungen umsetzen. Die Tatsache als solche ist nie unbekannt gewesen. Nicht nur der Zentralrat, sondern auch der jüdische Weltkongreß hat das Thema immer wieder angemahnt und Fragen gestellt. Aber erst jetzt kann man mit aller Deutlichkeit und präzisen Informationen die Dinge so bewerten.

Alle Beteiligten und Wissenden haben offensichtlich jahrzehntelang geschwiegen. Wie erklären Sie sich das?

Ich will mich gar nicht erst in die Analyse von Motivationen hereinbegeben. Denn jede Scheinanalyse meinerseits relativiert die Kernaussage: Hier haben Menschen in verantwortlichen Funktionen Kenntnis eines Unrechtstatbestandes gehabt, auf den es eine Antwort gab: Rückgabe.

In der Presse heißt es, daß die Mehrheit der Gelder aus dem Eigentum von Juden stammen. Ist das verifizierbar?

Soweit ich informiert bin, handelt es sich bei den Werten vorwiegend um jüdisches Geld. Der Skandal wäre aber übrigens der gleiche, auch wenn es von Nichtjuden stammt.

Die meisten derjenigen, an die die Gelder hätten zurückgegeben werden müssen, leben heute nicht mehr. An wen könnte es denn jetzt weitergeleitet werden?

Es muß, obwohl es sehr, sehr spät ist, versucht werden, das Geld jenen zurückzugeben, denen es gehörte. Dort, wo das nicht mehr festgestellt werden kann, bin ich der Meinung, daß es an die jüdischen Restitutionsinstitutionen gegeben werden muß. Die müssen dann versuchen, Leistungen für jene zu erbringen, die den Holocaust überlebt haben. Das Geld muß in einem Geist verwendet werden, der versucht, den Ungeist, der damals zu diesen und noch zu viel schlimmeren Unrechtstaten geführt hat, für die Betroffenen wenigstens ein Stück weit zu kompensieren.

Sind Sie optimistisch, daß es tatsächlich zur Rückgabe von Geldern oder Zahlungen an jüdische Organisationen kommen wird?

Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Betroffenen die letzte Chance, in dieser Frage einen engagierten und für die Menschen konstruktiven Abschluß zu finden, nicht wahrnehmen werden. Interview: Julia Albrecht, Berlin