Drei Wege zum Sehen

■ Die Spuren von Thomas, Heinrich und Erich: ein Stadtführer durch Lübeck

Jeder Mensch sieht nur das, was er weiß, und je vielfältiger das Gewußte, das Mittransportierte in einer Ansicht ist, desto mehr gibt es zu sehen, zu erahnen, herauszuholen. Es macht die Poesie mancher Orte aus, daß ihre Straßenzüge nicht nur aus Persönlichem heraus vielsichtig werden, sondern durch faßbare Vergangenheit. Lübeck ist so eine Stadt. Das Topografische ist hier nur die oberste Schicht eines Konglomerats aus Bildern, Hinterlassenschaften, Eigentümlichkeiten. Angetan waren davon noch alle Touristen, Eichendorff ebenso wie der Berufsreisende Humboldt, und Hans Christian Andersen hielt die Hansestadt gleich für einen Ort aus einem seiner Märchen. Als Theodor Fontane hierher kam, war der gotisch-mittelalterliche Aspekt noch vorherrschend. Wer sich heute hinter dem Holstentor leicht bergauf begibt, gelangt dagegen vor die aussagekräftigen Denkmäler nachkrieglicher Kaufhauskunst und bräuchte einen, der das willige Auge wieder auf jene Ecken lenkt, in denen Geschichte nicht plattgewalzt wurde, sondern gegenwärtig ist.

Mit Hans Wißkirchen und seinem schönen Buch mit dem betulichen Titel Spaziergänge durch das Lübeck von Heinrich und Thomas Mann ist der Retter aufgetaucht.

Der gebürtige Düsseldorfer hat sich die Stadt, in der er seit 1993 Leiter des Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrums ist, mit der Akribie und dem Eifer eines Zugereisten zu eigen gemacht. Unter Mitarbeit von Klaus Sobbe, der hier literarische Spaziergänge durchführt, bietet sein Buch ebensolche an. Ein Mittelpunkt sind natürlich die Mann-Brüder, die Zugpferde literarischen Reisens in diese Stadt, deren Lebenskoordinaten – für beide auch prägende Schaffensgrundlagen – hier überall am Weg liegen: Vom Buddenbrookshaus an der Mengstraße über den „Heimweg Tonio Krögers“ bis hin zum Katharineum, der Schule, der Heinrich Mann in Professor Unrat eines der größten literarischen Denkmäler setzte (das ihm die Stadt zu Lebzeiten nicht verzeihen wollte). Auch Thomas glänzte hier bescheiden: für zwei Klassen benötigte er ganze fünf Jahre.

Neben den Manns besuchten auch Theodor Fontane, Emanuel Geibel, Werner Bergengruen und der 1934 von den Nazis ermordete Erich Mühsam diese Schule. „Gymnasialbesuch in Lübeck“, resümierte Mühsam später, „unverständige Lehrer, niemand, der die Besonderheit des Kindes erkannt hätte, infolgedessen: Widerspenstigkeit, Faulheit, Beschäftigung mit fremden Dingen.“ Was auch das Weiterleiten von Schulinterna an die sozialdemokratische Zeitung meinen mag, weswegen Mühsam wegen „sozialistischer Umtriebe“ der Schule verwiesen wurde.

Sie alle, die unter der rigiden Bürgerlichkeit der Stadt meist eher litten, kreuzen die Wege, die Wißkirchen in seinem Buch beschreibt: drei Wege zum Sehen, auf denen die Geschichte einer bürgerlichen deutschen Mittelstadt als immer von außen beeinflußte Privatgeschichte lesbar wird.

Thomas Plaichinger

Hans Wißkirchen, „Spaziergänge durch das Lübeck von Heinrich und Thomas Mann, Arche Verlag, Hamburg/Zürich 1996