Zerbröselnde Augenblicke

■ Das 13. Sommertheater Festival eröffnete am Freitag auf Kampnagel

„Wo fängt die Kunst an, wo hört die Wirklichkeit auf?“ fragte Senatorin Christina Weiss in ihrer Eröffnungsrede zum 13. Internationalen Sommertheater Festival am Freitag auf Kampnagel und war schon mitten drin im Kunstwerk, das sich erst neben ihre Worte stellte, dann darüberlegte: Im kargen Licht einiger Scheinwerfer war sie zum Bestandteil einer Choreographie des Israeli Ohad Naharin geworden. Was als Gag bei der ersten Ansprache der Festival-Leitung noch überraschend wirkte, hatte sich längst in eine Anstrengung verwandelt. Letztlich ging die Idee, den Eröffnungsabend „aufzulockern“ zu gleichen Teilen zu Lasten der Sprechenden wie der Tanzenden und hinterließ insgesamt einen diffusen, eher bemühten Eindruck.

Redlich bemüht war auch Festival-Co-Leiterin Gabriele Naumann, als sie die Bilder von Naharins Choreographie in eine Bedeutung klemmen wollte, obwohl der Meister selbst meint, daß er es vorziehe, über Inspirationen und Inhalte nicht zu sprechen. Da war ein Pathos spürbar, das Naharins Arbeiten – die schon 1993 beim Sommertheater gefeiert wurden – bisher eher nicht kennzeichnete. Leider sollte die Chefin recht behalten: Nach der furiosen Eröffnungssequenz, einem Ausschnitt aus einer älteren Choreographie der Batsheva Dance Company, deren treibender Rhythmus vielversprechende Einstimmung war, folgte mit Yag, Naharins neuestem Werk, die Reihung zerbröselter Augenblicke voll behaupteter Schwere.

In zwei Gruppen von je sechs Tänzern hat Ohad Naharin seine Truppe für dieses Stück aufgeteilt und jeweils einzeln mit der „blauen“ und der „roten“ Gruppe gearbeitet. Einige Sequenzen entstanden wohl mit allen Tänzern, andere wurden vom Choreographen von Gruppe zu Gruppe vermittelt. Am Ende tragen beide Versionen das selbe Material in sich – in sicher leichten Variationen.

Dem Meister gehe es um das Schärfen der Sinne, des Bewußtseins der Zuschauer und „die ganze Erfahrung hängt nur von ihrer Fähigkeit ab, zugang zur eigenen Phantasie, den Sinnen und Gefühlen zu haben“, droht Naharin im Pressematerial und schiebt damit die Verantwortung für Gelingen oder Mißlingen des Abends geschickt von sich weg. Das Fehlen der eigenen Mitte wäre demnach verantwortlich, wenn die getanzten Bilder von Yag im Zuschauer keine Saiten berühren, kühl lassen, wenn auch nicht kalt und eine innere Bewegung ausbleibt. Dabei ist das Material, mit dem bei Yag gearbeitet wurde, deutlich weniger konzentriert, deutlich weniger intensiv, weniger stark, überzeugend als selbst in den Ausschnitten, die den Abend einleiteten. Wie schon im erklärenden Beiwort wird hier ein Hunger nach Nähe postuliert, nach Zärtlichkeit, und immer wieder wird ein ungenannter aber unterschwelliger Schmerz zitiert, wenn die Tänzer sich mit Namen vorstellen und eine fiktive Familie bilden, in der man früher „sehr, sehr, sehr, sehr“ gerne tanzte. Viel zu viel Deutlichkeit liegt in diesen Themenvorgaben – als wenn Naharin nicht auf die Kraft seiner Choreographie vertraute.

Erst gegen Ende hat er die hervorragenden Tänzer seiner Company für treffende, erstaunliche Bilder genutzt. Doch da war es zu spät.

Thomas Plaichinger