Deutschland, das gelobte Land?

Insgesamt etwa 50.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sind seit dem Mauerfall nach Deutschland gekommen mit dem Status: Kontingentflüchtlinge  ■ Von Ralf Melzer

In Moskau war Professor Felix Meiranowsky Berater des Ministeriums in Umweltfragen. In Berlin sucht er seit drei Jahren einen Job. Nein, sagt der Spezialist für Wasserversorgung in noch gebrochenem Deutsch, ökonomische Gründe seien es nun wirklich nicht gewesen, warum er mit seiner Familie nach Deutschland gekommen sei. Professor Meiranowsky erinnert sich an den alltäglichen Antisemitismus, mal offen, mal subtil, oft beides, von Schirinowski ganz zu schweigen: „Irgendwann kam ich da zu der Überzeugung, daß unser Platz nicht in Rußland ist.“

Mascha ist 11 Jahre alt und seit 1992 in Berlin. Es gefällt ihr gut hier, viel besser jedenfalls als in Odessa, ihrem Geburtsort. Zweimal pro Woche ist Tanzgruppe im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde, und in der Schule hat sie schnell Freunde gefunden. Ihre Zukunft in Deutschland sieht Mascha ganz klar: „Ich will Jura studieren und Richterin werden.“

Maschas Oma ist 62 Jahre alt und wäre am liebsten schon viel früher gekommen. Auch sie ist von Deutschland begeistert, von „der Kultur“ vor allem, wie sie sagt. Die Lebensumstände in der Ukraine seien immer schlechter geworden, staatliche Ausgrenzung und Diskriminierungen an der Tagesordnung gewesen. Hier habe es dagegen noch keine Probleme dieser Art gegeben, ergänzt sie, simultan und akzentfrei von Mascha übersetzt. Deutschland, das gelobte Land?

Insgesamt etwa 50.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sind seit dem Mauerfall in die Bundesrepublik gekommen. Zunächst mit Touristenvisum, seit Januar 1991 auf Grundlage der sogenannten Kontingentflüchtlingsregelung. Rund ein Drittel sind Russen, die anderen kommen aus Litauen, Moldawien, der Ukraine, Aserbaidschan oder anderen Teilen der früheren UdSSR.

Seit Geltung des Kontingentflüchtlingsgesetzes werden die entsprechenden Anträge von den deutschen Vertretungen über das Bundesverwaltungsamt an die Bundesländer weitergeleitet. Einreisen kann, wer die Aufnahmezusage eines Bundeslandes hat. Der Status als Kontingentflüchtling schließt zum Beispiel die Möglichkeit der Inanspruchnahme staatlicher Arbeitsförderung ein. Allerdings, kritisiert Berlins Ausländerbeauftragte Barbara John, müßten diese Angebote noch gezielter greifen.

In Berlin leben weit mehr Einwanderer, als es die „Quote“ vorsieht, weil anfangs die meisten hierherkamen. Jetzt werden deshalb nur noch Einzelfälle aufgenommen. „Ich setze mich für Familienzusammenführung ein“, meint dazu Barbara John. Ein humanitäres Programm dürfe die Menschen schließlich nicht auseinanderreissen.

Das Kontingentsystem bedeutet auch, daß die Zuwanderung dieser schon in sich heterogenen Gruppe auf völlig ungleiche Voraussetzungen trifft. Während etwa in Berlin oder Frankfurt/Main funktionierende Gemeindestrukturen die Betreuung erleichtern, gibt es nach den Worten von Peter Fischer vom Zentralrat der Juden in Deutschland sogar Gebietskörperschaften, „in denen kein einziger Jude lebt, wo nun aber Zuwanderer hinkommen“.

Angesichts einer angeblich bevorstehenden Zuwanderung „Hunderttausender“ Juden aus der Ukraine war im Juni von CSU-Entwicklungsminister Spranger, aber auch von Kreisen des Auswärtigen Amts das Aufnahmeverfahren in Frage gestellt worden. Für Norma Drimmer vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin handelt es sich dabei um „versuchte politische Tabubrüche“.

Die Gründe, fünfzig Jahre nach der Shoah ausgerechnet nach Deutschland zu gehen, sind vielfältig. Der Mythos vom reichen und geordneten Deutschland bestimmt weitgehend das Bild der Emigranten und überstrahlt selbst erste negative Erfahrungen. Klima und Mentalität spielen auch eine Rolle, ebenso die Empfindung einer größeren kulturellen Nähe zu Europa als zu Israel.

Allerdings ist die Migration Richtung Israel mit rund 800.000 Menschen noch ungleich stärker: ein Exodus von Ärzten, Architekten, Künstlern, Ingenieuren, Lehrern und Fachleuten aller Art, der, wenngleich gebremst, weiter andauert und dessen negative Auswirkungen für die GUS-Staaten noch gar nicht absehbar sind.

Die Probleme der sozialen und beruflichen Integration in Israel und Deutschland unterscheiden sich kaum. Den überdurchschnittlich alten und überdurchschnittlich hoch qualifizierten Einwanderern fällt der Neuanfang schwer. Hinzu kommen das Sprachproblem und ein ungewohntes Gesellschaftssystem, in dem Eigeninitiative und Ellenbogen gefragt sind. Mehr als die Hälfte der seit 1990 in der Bundesrepublik Aufgenommenen lebt von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe. „Nach der ersten Euphorie“, sagt Judith Kessler von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, „fallen viele in ein großes Loch.“ Dabei kommen sie mit der festen Absicht zu bleiben und eines Tages die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Schon allein, um nicht von der Zulassung zu bestimmten Berufen ausgeschlossen zu bleiben.

Für viele Zuwanderer ist der Entschluß zur Emigration nicht nur ein Schritt in eine unsichere Zukunft, sondern zugleich Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln und mit dem gebrochenen oder verschütteten Verhältnis zum Judentum, dem sie sich unter dem Eindruck gezielter Sowjetisierung und antijüdischer Politik entfremdet haben. „Die Emigranten sind oftmals entwurzelt“, so Peter Fischer. Yossi Wardi von der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) des Zentralrats der Juden in Deutschland stellt fest, daß gerade die Jüngeren unter ihnen wenig Ahnung vom Judentum hätten. Nur gut die Hälfte der Zuwanderer landet überhaupt bei einer Gemeinde. Gleichwohl hat sich die Gesamtmitgliederzahl in Deutschland seit 1989 auf etwa 54.000 verdoppelt, in einzelnen Gemeinden sogar verzehnfacht, was natürlich nicht ohne Spannungen bleibt. In Berlin kommen über ein Drittel der zwischen 14 und 19 Jahre alten Mitglieder der Jugendorganisation B.B.Y.O (B'nai B'rith Youth Organization) aus Familien der Immigranten.

ZWST und Jüdische Gemeinden sind die sozialen Anlaufstellen der Neuzuwanderer. Hier finden sie Unterstützung in Form von Beratung, Deutschunterricht und Freizeitangeboten. Eine Galerie wurde etabliert, um Künstlern einen Einstieg in den Markt zu ermöglichen, und seit neuestem besteht sogar in Frankfurt/Main ein Orchester. Diesem, berichtet Yossi Wardi stolz, „wurde gerade von unabhängiger Seite ein hoher künstlerischer Standard bescheinigt“. Was will man mehr.