Ein ehrwürdiges Haus voller Geheimnisse

Das Restaurations-Institut balsamiert alte Genossen, eine altaische Lady und neureiche Russen ein  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Ich arbeite mit Wladimir Iljitsch schon seit 1953 und könnte nicht behaupten, daß er sich seither verändert hätte“ – ein kaum merkliches Lächeln spielt um die farblosen Lippen des 74jährigen Juri Alexejewitsch Romakow. Den alten Herren mit den stahlblauen Augen bezeichnen seine Mitarbeiter als „wandelnde Enzyklopädie“. Den absurden Effekt seiner Bemerkungen vermag er durchaus zu goutieren.

Juri Alexejewitsch spricht hier nicht im übertragenen Sinne von Lenin, und er meint auch keinen Namensvetter des Führers des internationalen Proletariats. Romakow redet durchaus von Lenin selbst – von dem, was er den „Körper“ nennt. Über gediegene Ledersessel hinweg schaut er auf eine gerahmte, postergroße Fotografie, die sein „Objekt“ zeigt – noch zu Lebzeiten und doch schon in Todesnähe. Leicht waidwund erwidert Lenin den Blick.

„Unser altes Team, das sich um ihn kümmerte, bestand aus fünfzehn Leuten, jetzt sind nur noch drei davon übrig. Ja, ja, die Menschen sind sterblich. Wer, wenn nicht wir, könnte das bezeugen“, fährt Juri Alexejewitsch fort: „Sie rackern und rackern und dann – batz! – fallen sie tot um.“ Wer den bejahrten Wissenschaftler aufsucht, wird durch labyrinthische Gänge hinter festungsähnlichen Mauern geleitet. Blühende Pflanzen schmücken breite Fensterbänke. Durch offene Türen blitzen klassische Reagenzgläser und hochmoderne Computeroszillographen. Bisweilen stößt das Auge auf die Barriere einer Reihe deckenhoher und limousinenbreiter Kühlkammertore, hinter deren zuverlässigen Schlössern sich offenbar besonders sperriges Gefriergut verbirgt. Willkommen im „Institut für biologische Strukturen“!

Das weitläufige Gebäude mitten im Zentrum Moskaus macht sich von der Fassade her klein. Dafür erstrecken sich lange Seitenflügel in den Hinterhof, wo sie den Ausläufern des „Hotels Peking“ begegnen. Noch vor ein paar Jahren unterstand dieses Territorium der Verwaltung des Lenin-Mausoleums und somit strikter Geheimhaltung. Der Etat wurde seinerzeit vom Gesundheitsministerium der UdSSR bestritten. Heute gehört das Institut zum Landwirtschaftsministerium und bekam im letzten Jahr vom Staat gerade genug Geld, um die Hälfte seines ehrwürdigen Dachs reparieren zu lassen. Das Spezialistenteam von Weltrang sah sich nach neuen Einkommensquellen um und entwickelt nun als „Wissenschaftliche Produktionsvereinigung VILAR“ Medikamente auf Pflanzenbasis, die zum Beispiel das Wachstum von Krebstumoren bremsen. Links vom Haupteingang lockt eine Bank Kunden an, die Räume rechts davon hat man an ein südafrikanisches Reisebüro untervermietet. Den eigenen Haushalt von etwa einer Million Dollar pro Jahr erwirtschaftet das Kollektiv selbst. „Mit Lenin“, so versichern die Mitarbeiter, „beschäftigen wir uns jetzt völlig unentgeltlich – einfach weil wir nicht von ihm lassen können. Zuviel von unserer Kraft und unserem Wissen haben wir in ihn investiert.“

Der anfangs erwähnte Juri Aleksejewitsch Romakow ist stellvertretender Direktor des Zentrums. Niemand kann ihm widersprechen, wenn er mit päpstlicher Autorität die Intaktheit des Leichnams Lenins postuliert. Was bedeuten demgegenüber schon Überschriften russischer Tageszeitungen im billigen Boulevardstil wie etwa: „Lenin wird immer weniger!“? Indem sich Juri Aleksejewitsch als echter Wissenschaftler nur über jene historische Epoche äußert, die er selbst bezeugen kann, umschifft er außerdem geschickt jene Zeiten, in denen Gerüchte die Hauptfäulnisperioden des Führers ansiedeln: die dreißiger Jahre und den Zweiten Weltkrieg. „Alle unsere Objekte hielten sich unverändert“, doziert Romakow: „Leider wurden einige von ihnen bereits liquidiert. Wer? Na, zum Beispiel Dimitroff und Klement Gottwald.“ Unverzüglich wärmt Juri Aleksejewitsch eine Erinnerung auf, an der sich das ganze Institut erfreut: „Die Einbalsamierungsgeschichte Ho Chi Minhs verlief am kompliziertesten. Unter amerikanischem Bombardement mußten wir 1969 gemeinsam mit dem Körper oft unseren Unterschlupf wechseln. Bisweilen saßen wir mit ihm in Dschungelhöhlen. Nichts für ungut! In dieser Zeit lernten wir viel über Pilzbekämpfung. In dieser feuchten Wärme ist so ein Objekt ein gefundenes Fressen für Mykosen.“

„Und wenn Sie glauben, daß wir uns auf Lenins Unveränderlichkeit etwas einbilden“, trumpft der alte Herr auf, „so mißtrauten wir uns durchaus selbst. 1968 entwickelten wir eine spezielle Stereophotoapparatur, die es erlaubt, Veränderungen in Relief und Umfang des Gesichts hundertprozentig nachzuweisen. 1973 hatten wir das alles fertig. Man muß sagen: Unsere visuellen Beobachtungen stimmten mit den objektiven Daten überein. Der Körper ist sehr stabil! Von Zeit zu Zeit entnehmen wir ihm Zellproben. Die neuen lassen sich von den älteren nicht unterscheiden! Übrigens: Lenin ist keine Mumie“, Romakow spricht das Wort leicht indigniert aus: „Dieser Begriff würde beinhalten, daß man ihn getrocknet hätte wie einen Schinken. In seinem Fall aber entspricht der Flüssigkeitshaushalt der Zellen dem Zustand unmittelbar nach dem Tode.“

Und dennoch war es eine Mumie, durch die das Institut vor zwei Jahren weltweite Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht weniger epochal als die Öffnung des Tutenchamun- Grabs für Ägypten war für Rußland 1993 der Fund der „altaischen Lady“, einer jungen, reichgeschmückten Priesterin aus der skythischen Pasyryk-Kultur, deren im Eis des Hochaltai-Gebirges konservierte, einbalsamierte Mumie trotz ihrer 2.400 Jahre frisch und elfenbeinfarben aussah. Dies änderte sich allerdings, als man sie transportierte. Daß sie heute im Museum von Nowosibirsk ruhen kann, verdankt sie den Spezialisten dieses Zentrums, vor allem Wladimir Lwowitsch Koselzew. Solange er die „Lady“ in der Mangel hatte, hielt der joviale Mittfünfziger sie hinter den Panzertüren der Instituts-Kühlkammern buchstäblich versiegelt. „Wir waren bereit – natürlich aus reinem Idealismus –, den Archäologen zu helfen“, erzählt er: „Als die Lady zu uns kam, war sie schon schwarz wie Steinkohle und völlig ausgetrocknet, außerdem sproß und keimte so allerhand auf ihr.“ Koselzews Team machte die schöne Mumie nicht nur steril, es bewältigte in monatelanger Arbeit die bis dato als unlösbar geltende Aufgabe, ihr die alte Hautfarbe zurückzugeben. Ganz nebenbei wurden auf den nunmehr aufgehellten Frauenarmen wieder die wunderbaren Pflanzen- und Tiertätowierungen sichtbar, die die adelige Zeitgenossin des Perikles schmückten.

Der florale Wortschatz führender Mitarbeiter des Instituts und ihre in der Geschichte wechselnde Zuordnung zu Gesundheitsfürsorge bzw. Landwirtschaft legt die Frage nahe, mit wem wir es hier eigentlich zu tun haben. Mit Ärzten, Botanikern oder gar Liebhabern ihrer Objekte? Melancholie überschattet das Antlitz des durchaus vitalen Koselzew, als er der Trennung von der Lady gedenkt, die ein bißchen Glamour in sein Gelehrtenleben gebracht hatte. „Immerhin“, sagt er, „ist das doch organische Materie. Und damit sollte man zart und behutsam umgehen. Uns bleibt ein Trost: Wir machten sie fit zur Aufbewahrung bei Zimmertemperatur.“

„Fit“ halten die MitarbeiterInnen dieser Organisation, die sich wechselweise „Institut“ oder „Produktionsvereinigung“ nennt, nicht nur ihre toten menschlichen Objekte, sondern auch die eigenen Fertigkeiten im Umgang mit ihnen. „Es liegt in der Natur der Grundlagenforschung, daß niemand weiß, wozu sie einmal gut sein wird“, antwortet der ehrwürdige Juri Aleksejewitsch Romakow auf die Frage, weshalb er dafür ist, Lenins Körper für alle Zeiten zu konservieren. Aber gleich anschließend macht er doch einen praktischen Vorschlag: „Wer sagt denn, daß die Bestattung in Familienmausoleen aus der Mode kommt. Und wer sagt, daß die Verwandten es nicht als angenehm empfinden werden, wenn sie ihre Nächsten im Sarg in demselben Zustand erblicken, in dem sie sie bei Lebzeiten kannten. Ohne Zersetzungserscheinungen?“

Ein Interwiew mit dem neuen Direktor des Instituts und der Produktionsvereinigung VILAR, Valeri Aleksejewitsch Bykow, in der Tageszeitung Moskowski Komsomoljez läßt ahnen, daß es sich bei den Ausführungen nicht nur um Zukunftsmusik handelt. Bykow erwies sich in dem Gespräch sowohl als braver Adept der geheimniskrämerischen Mausoleumstradition als auch der kapitalistischen Zukunft. Auf die Frage, ob es stimme, daß seinem Betrieb für die Einbalsamierung Kim Il Sungs gleich ein Jahresetat von Nord-Korea erstattet wurde, antwortet er sibyllinisch: „Der Inhalt unserer Verträge mit ausländischen Klienten bleibt vertraulich.“

Auf die Frage, was sich hinter einer der breiten Kühlfachtüren verberge, antwortet Wladimir Lwowitsch Koselzew, Restaurator der Lady, gelassen: „Wieder so ein neuer Russe. Sein Gesicht muß für die Beerdigung gerichtet werden. Die Existenz eines Hauses wie des unseren in dieser Stadt hat sich in solchen Kreisen schon herumgesprochen. Oft haben wir mit diesen Objekten unsere liebe Not, weil sie, bis zur Unkenntlichkeit von Kugeln zerfetzt, eingeliefert werden.“ Die an den Neureichen gesammelten Erfahrungen kamen Koselzews Mitarbeitern zugute, als sie im Oktober 1994 den schrecklich zugerichteten Leichnam des jungen Journalisten Dima Cholodow für dessen Beerdigung restaurierten, die zu einer großen Demonstration wurde. Wegen seiner Nachforschungen über die Korruption unter hohen Militärs wurde Cholodow Opfer einer Briefbombe. „Selbstverständlich haben wir in diesem Falle unentgeltlich gearbeitet“, sagt Koselzew: „Das war für uns Ehrensache!“ Wladimir Lwowitsch, auch einer der Teilnehmer an den Versteckspielchen mit Onkel Ho, weist auf ein skurriles Bäumchen im Garten: „Das ist ein Mandarinenbaum. Wir haben ihn von dem Einsatz in Vietnam mitgebracht und gießen ihn sorgfältig. In warmen Jahren trägt er Früchte.“