Trachtengruppen im Regen

■ Die Wege der Vertriebenen: Andreas Voigt zeigt in seiner Dokumentation Ostpreußenland das Leben am Rand von allem

Von Berlin bis Kaliningrad sind es dreißig Kilometer weniger als von Berlin nach München. Trotzdem ist diese Region rings um das ehemalige Königsberg viel weiter weg. Vor der Kamera von Sebastian Richter wirkt sie in Andreas Voigts Dokumentarfilm Ostpreußenland, der diese Woche im Fama gezeigt wird, nicht wie ein Ort am Rand von Europa als vielmehr wie ein Unort, die hartkantige Fläche, auf der die Wege von Vertriebenen sich kreuzen, die hier – freiwillig oder gezwungenermaßen – ihren Wohnort gefunden haben und zu überleben suchen.

Wie ein Überrest puren Machtwillens steckt heute noch die russische Exklave von Kaliningrad zwischen Polen und Litauen. Längst gibt es die Macht nicht mehr, die einmal diesen Willen bewiesen hat. Längst wird der Status Quo nur aufrechterhalten, weil keiner eine andere Lösung hat, weil keiner überhaupt irgendeine Lösung hat.

Ohne didaktisch vorzugehen, hat Andreas Voigt die Menschen aufgesucht, die hier wohnen: Die Bäuerin, die morgens die Jauche aus dem Stall fährt und abends im Dorfkino Der letzte Tango vorführt, bis die Glühbirne im Projektor kaputt geht und keine neue geliefert wird; die jungen Soldaten aus Rußland, die Mauern aus alten deutschen Ziegeln bauen und die eigentlich nur weg wollen; einen revanchistischen Deutschen vom „Rußlanddeutschen Kulturverein Trakehnen“, der Schirinowski zitiert, um den deutschen Anspruch auf Schlesien zu untermauern.

Aber auch Günther, den Deutschen, der nach dem Krieg einfach hierblieb, weil er ebenso gut russisch wie litauisch sprach, und der kurz danach Anna geheiratet hat. Erst 1966 durfte die Ehe zwischen dem Deutschen und der Litauerin in ihre Pässe eingetragen werden. Oder die Rußlanddeutschen von der Wolga, die hierher zwangsumgesiedelt wurden und die ihren Sohn nach Deutschland schicken wollen, während er lieber dort bleiben will, wo er ist.

Sie alle haben ähnliche Probleme wie die Arbeiterinnen in der Fischfabrik, die jetzt zu „Aktionärinnen“ gemacht werden. Das Resultat dieser „Beteiligung“ ist nur, daß sie nun in einem halben Jahr so viel Lohn bekommen wie vorher im Monat. Dort, wo diese Menschen in Armut leben, hinter der Kurischen Nehrung, ist Nirgends, ein Landstrich der Entwurzelten, der an allen Ecken und Enden beschnittenen Zugehörigkeiten.

Andreas Voigt hat ihnen zugehört, hat in langen, ruhigen Einstellungen Privates porträtiert und dabei über Lebensgeschichten eine Zustands-Beschreibung hergestellt, die deutlich macht, wie „große“ Politik von Einzelnen ertragen und gelebt werden muß. Sein Ostpreußenland ist so komplex und verschachtelt, so fragmentarisch und trotzdem lebendig wie die Situation dieser Menschen am Rand von allem. Eine Dokumentation, wie sie viel öfter ins Kino kommen sollte.

Thomas Plaichinger

Do, 1. August, bis Mi, 7. August, täglich 20.45 Uhr, Fama