Elf Cent Baumwolle, vierzig Cent Fleisch

Der Folksong, der die Herzen der Massen für den Kommunismus gewinnt, ist eine amerikanische Erfindung. Adorno stand dabei auf verlorenem Posten. Wie die Geschichte verlief, dokumentiert die Box „Songs for Political Action“  ■ Von Thomas Groß

Von der Popkultur lernen heißt siegen lernen – nur dauert es mitunter etwas länger, und in jedem Fall ist ein Preis zu zahlen. „Die Texte wirkten ein wenig kommunistisch“, heißt es zum Beispiel in Dan Wakefields Roman „Going All The Way“, in dem zwei Kumpels auf eine Party gehen und dort die Platte eines Typen hören, „der sang und dazu Gitarre spielte, aber es war nicht Hillbilly oder so was. Es klang mehr wie englische Folksongs, handelte aber von Amerika. Irgendwas von wegen ,Dies Land ist dein Land, und auch mein Land...‘“

Wakefields Roman erschien 1970, er spielt in den Fünfzigern, aber die Wurzeln der Typen, die kommunistisch klingende Lieder zur Gitarre sangen, liegen in den Dreißigern und Vierzigern. Damals zog ein landstreicherartiger Mann namens Woody Guthrie von Küste zu Küste durch „sein Land“, die USA, und auf seiner Gitarre stand „This machine kills fascists“. Zwischen den Ursprüngen und ihrer literarischen Vergegenwärtigung liegen knapp 40 Jahre und ein Weltkrieg. So lange hat es gedauert, bis aus dem Singer/Songwriter als zupfendem Botschafter der Unterdrückten ein Pop-Modell geworden war – der Archetyp, den Bob Dylan noch heute verkörpert.

Wie die Geschichte verlief, dokumentiert materialreich „Songs For Political Action. Folkmusic, Topical Songs And The American Left 1926–1953“, eines dieser sauteuren Box-Sets, das aber ausnahmsweise die Ausgabe lohnt, schon weil es den Erwerb vieler weiterer CDs erspart. 298 Songs featuren weitgehend vergessene Agitprop-Pioniere wie Aunt Mollie Jackson („Ragged Hungry Blues Part I & II“), Tillman Cadle („I Don't Want Your Millions, Mister“) oder die erstaunliche Sara Ogan Gunning, die mit „I'm Going To Organize, Baby“ erstmals die Frage nach Konstitution und Klassenkampf im Folksong stellte. Das Rauschen der Azetatfolien verrät aber auch, daß das Protestlied kein Traditionsprogramm ist, sondern ein Kunstprodukt.

Es war während der auf den Black Friday 1929 folgenden großen Wirtschaftskrise, als das New Yorker Composer's Collective, ein Zirkel marxistischer Musikagitatoren, nach anhaltenden Mißerfolgen bei den Massen beschloß, das avantgardistisch inspirierte Komponieren sein zu lassen und populär zu werden. Bezeichnenderweise war es ein Musikethnologe, der das Programm für dieses Manöver entwarf und sich damit in der Gruppe durchsetzte. Auch in den industrialisierten Staaten des Nordens, schrieb Charles Seeger, Sohn aus wohlhabendem New-England- Adel (und Vater von Pete Seeger) in seinem Essay „On Proletarian Music“, seien Traditionen „ethnischer“ Musikstile wirksam. Wer das Herz der Massen für den Kommunismus gewinnen will, müsse alle Sophistication abwerfen und so komponieren wie das Volk selbst. Seeger konnte sich bei seiner Argumentation auf Frühformen des populären Agitprop stützen: Bereits 1900 hatte die sozialistische Partei in den USA ein Arbeiter-Songbook zusammengestellt, und Sammlungen wie John A. Lomax' „Cowboy Songs And Other Frontier Ballads“ (1910) fixierten erstmals die mündlichen Überlieferungen aus dem vergangenen Jahrhundert – darunter auch Klagegesänge der ländlichen Modernisierungsverlierer von damals: enteignete Kuhjungen, mittellose Baumwollpflücker, notreligiöse Schwarze, letzte Indianer.

Ein Teil von Seegers Sammelarbeit folgt dem romantischen Impuls, sich der Tradition im Moment ihres Verschwindens zu erinnern, doch zugleich war er urbaner Intellektueller genug, um zu sehen, wie die Botschaft archaischer Kämpfe um Land, Frauen, Freiheit und Nahrung sich in den Städten gerade zu einer frühen Ausgabe von Kulturindustrie umformte. Der National Barn Dance, ein Radioprogramm, in dem zivilisierte Großstadtcowboys die zum (Trivial-)Mythos gewordene Vergangenheit beschworen, hatte Ende der Zwanziger bereits ein Millionenpublikum, und Tin Pan Alley, wo die New Yorker Musikverlage residierten, begann zu einem Synonym für die industrielle Produktion von Hits zu werden. Im Schatten dieses Booms gaben Seeger und das Composer's Collective der populären Form soziale Inhalte und schufen damit tatsächlich einen neuen Standard: den sogenannten „Topical Song“, paradigmatisch verkörpert durch Bob Millers „Eleven Cent Cotton, Forty Cent Meat“.

Die Fleischpreise als Liedgegenstand – konkreter kann ein Folksong kaum werden. „Topical“ (=thematisch, sachbezogen, aktuell) – schon der Begriff signalisiert ein folgenschweres Votum für das „Gegenständliche“, Handgreifliche, all das, worunter der Mann von der Straße sich etwas vorstellen kann. Der Umkehrschluß: Was nicht dem Volke dient, ist keine gutsozialistische Ästhetik. In demokratischeren Bahnen schlug die ästhetische Linke New Yorks damit eine ähnliche Linie ein wie die Kulturpolitik der Sowjetunion. 1933, während Charles Seeger dem Volksbegehren nachgab (und in Deutschland „Machtergreifung“ war), ermutigte Lev Lebedinsky im Zuge der zweiten Internationalen Musikkonferenz in Moskau die Kopfarbeiter seines Landes, mehr Nähe zur Arbeiterklasse zu zeigen. Von da an hat „Folk“ immer auch eine linkspatriotische Färbung („This land is your land...“), und Männer wie Adorno stehen auf verlorenem Posten.

Immerhin schaffte es die amerikanische Linke in den Dreißigern, zeitweilig in den kulturellen Mainstream einzubrechen: Es galt auch für Liberale als chic, in eine der Broadway-Shows zu gehen, in der Performer wie Mordecai Baumann, Elie Siegmeister oder Josh White eine Art Commie-Vaudeville präsentierten. Noch während der frühen Vierziger hielten die Almanac Singers, das erste rein aus Städtern (und was für intellektuellen Exemplaren!) zusammengesetzte Folkensemble, das rote Fähnlein hoch. „Round And Round Hitler's Grave“ heißt der optimistischste Titel der Truppe, zu der neben Pete Seeger und Sis Cunningham zeitweilig auch Woody Guthrie gehörte. Das faksimilierte Textblatt zeigt einen Comicgrabstein mit der Aufschrift „A. Hitler. Stunken 1942. Grave dug by Almanac Singers“ – so pfadfinderhaft lustig und quasi mit dem Strom konnte der Folk-Protest sich in diesen Jahren noch geben.

Leider kam es nach 1945 zunächst nicht ganz so, wie Pete Seeger und seine Mitstreiter – die nach dem Hitler-Stalin-Pakt ganz auf die patriotische Linie eingeschwenkt waren – es sich erhofft hatten. Der Sieger nahm alles und erledigte die paar verbleibenden Kommunisten im Pelz während der McCarthy-Ära gleich mit. Erst nach der in „Songs For Political Action“ dokumentierten Zeit beginnt die eigentliche Erfolgsstory des Topical Song als uramerikanischer Erfindung. „We shall overcome ... some day“ – prophetische Worte des Optimisten Seeger, der bereits 1956 im Folkie-Magazin Sing Out! den Kauf von 500.000 Gitarren durch die einheimische Jugend als gutes Zeichen genommen hatte.

Und trotzdem: mit Bürgerrechtsbewegung und Free-Speech- Movement, mit der Übernahme der Botschaft durch Dylan, Tom Paxton und Phil Ochs siegte die Sache des Guten noch lange nicht, die Botschaft aus den Dreißigern und Vierzigern wird – so stellt sich das heute dar – bloß in eine weitere Stufe der Unterhaltungsindustrie eingespeist.

„Vielleicht war der ganze Ort eine geheime kommunistische Zelle“, fragt sich in Wakefields Roman der Held angesichts des Apartments voller Magazine, Folkmusic und Party-Leute, die cool über die richtigen Dinge reden. Eine korrekte Einschätzung für die Sechziger und das, was sie bewirkten. Mit der Verpoppung des Topical Song ist ein historischer Wechsel ebenso eingelöst worden wie geplatzt: „kommunistisch klingende Texte“ sind über die Jahre in einem solchen Maße Standard geworden, daß niemand mehr richtig weiß, was damit noch gewollt wird – abzulesen nicht zuletzt an dem Endlos-Volkshochschul-Kurs, den der Hamburger Musikjournalist Günther Jacob in der Tageszeitung junge Welt über die Frage „Was ist ein Protestsong?“ veranstaltet.

Bis Klarheit in die Sache gebracht ist, bleibt „Protest“ eine Angelegenheit von Mode, Verzweiflung, Rage Against The Machine, 10-CD-Boxen und dem Wunsch, es möge auch im Reiche Pop eine Verabredung zwischen den Generationen geben. Auf limitierten T-Shirts war vor nicht allzulanger Zeit ein Topical Slogan zu lesen: „Antifaschismus sollte erfolgreich sein“.

„Songs For Political Action. Folkmusic, Topical Songs And The American Left 1926–1953“. 10 CDs mit 212seitigem Booklet, herausgegeben von Ronald D. Cohen, Dave Samuelson und Richard Weize. Bear Family Records (Tel. 04794/93000), 390 DM