Alle zehn Minuten ein Einschlag

Sieben Jahre nach dem Abzug der Roten Armee herrscht in Afghanistan noch immer Krieg. Die Hauptstadt Kabul wird von der islamistischen Talibanmiliz belagert. Ihre Opfer sind häufig Zivilisten  ■ Aus Kabul Christian Kreutzer

Die können uns gar nicht treffen.“ Massum, Hauptmann der afghanischen Regierungsarmee, lächelt überlegen. Seine Stellung im Süden Kabuls ist einen Kilometer Luftlinie von der der Talibanmilizen entfernt. Zu weit für eine Kalaschnikow, zu nah, um von einem Taliban-Panzer, dessen Geschützrohr über einen Hügel ragt, getroffen zu werden. Er und seine Männer können sich zwischen ihrem Ruheraum und den Schützenstellungen gefahrlos bewegen.

Die Taliban feuern trotzdem vom Berg herunter. Alle zehn Minuten steigt ein Rauchwölkchen aus ihrem Panzer auf. Dann saust ein Geschoß hoch über Massums Stellung und schlägt krachend in Qalaifatu ein. Das kleine Dorf ist das nächstliegende Ziel, das die Taliban erreichen können. Mehrmals täglich fliegen Granaten weiter stadteinwärts in Kabuls südliche Vororte.

Massum ist guter Dinge. Bildreich erzählt er, wie seine Einheit die Taliban, die im vergangenen Jahr einige der Vororte erobert hatten, wieder vertrieben hat.

Abdul-Karim (19) hat keine Lust zu erzählen. Er wohnte in Qalaifatu. Bleich liegt er im Hospital. Seine Antworten sind ein Flüstern, meist nur ein Schulterzucken. Eine Taliban-Granate hat ihm beide Füße abgerissen, Vater und Schwester getötet. Seine Familie war vorher schon bitter arm, konnte das Dorf nicht verlassen. Woanders hätte sie in einem Flüchtlingslager leben müssen.

„Hier in Kabul hat sich wenig geändert“, berichtet Dr. Naimi. „Nur künstliche Gliedmaßen sind etwas leichter zu bekommen als früher“, fügt er traurig lächelnd hinzu. Ihre Depressionen würden junge Männer wie Abdul-Karim meist irgendwann zum Heroin treiben. Er zeigt die Liste mit den Neuzugängen der letzten Tage. Hinter zahlreichen Namen ist ein großes M gesetzt – es steht für Minenopfer. Dahinter ist das Alter der Patienten eingetragen: 30 Jahre, 17 Jahre, 3, 12, 7 Jahre. „Durchschnittlich fünf Menschen, unter denen eine Mine explodiert ist, werden jeden Tag hierhergebracht. Und es gibt noch sieben andere Krankenhäuser in Kabul“, sagt Dr. Naimi und seufzt: „Wir müssen fast immer amputieren.“ Mehr als zweihundert Patienten liegen hier übergangsweise. Die meisten sind Soldaten und Kinder. Am schlimmsten ist es auf der Kinderstation. Dutzende Patienten starren angsterfüllt in eine Ecke des Raumes. Dort bekommt die 12jährige Sarah die Fäden ihrer Amputationswunde gezogen. Schmerzmittel sind rar. Ihr Weinen hallt durch den Saal. Die meisten Kinder hier haben diese Prozedur noch vor sich.

Nebenan auf der überfüllten Intensivstation liegt ein 20jähriger Usbeke, bleich und mit geschlossenen Augen. Seine Brust hebt und senkt sich nur schwach. Vor sechs Wochen hat er bei einem Streit mit „befreundeten“ Milizen um ein paar Beutezigaretten einen Bauchschuß abbekommen.

Auf dem Weg nach Maidan Shahr, einem Marktflecken zehn Kilometer von Kabul, springt der 10jährige Nasser ins Taxi, mit vier großen Kanistern beladen. Achtmal am Tag überquert er die Frontlinie zwischen den Taliban in Maidan Shahr und den Regierungstruppen in Kabul. Viermal holpert er auf der durchlöcherten Straße hin und zurück, kauft bei den Tailban Benzin und verkauft es in Kabul. Achtmal bezahlt er dabei Wegezölle, die seinen Tagesprofit auf ein bis zwei Dollar schrumpfen lassen. Nasser hat keine Wahl. Sein Vater ist tot, und seine Geschwister sind noch zu klein, um zum Unterhalt beizutragen. „Irgendwie geht alles“, behauptet er und versucht ein Lachen zustande zu bringen.

Der Taliban Mullah Mahmud Junus in Maidan Shahr sagt, sein Chef Mullah Abdur-Rashid sei leider für vier Tage verreist. „Zu Friedensgesprächen“, fügt er noch hinzu, ohne die peinlich berührten Blicke seiner Untergebenen zu bemerken. Von denen wissen wir, daß sich Mullah Abdur-Rashid im Nebenzimmer befindet. Den Beschuß ziviler Wohnviertel streitet der Mullah rundweg ab. Das seien Truppen des Präsidenten Rabbani. Sie feuerten in die Wohnviertel, um die Taliban des Verbrechens zu bezichtigen.

Dann ist die Zeit fürs Gebet gekommen, und Mullah Junus entschwindet.