Kids fehlt das Jenseits

■ Nach einer prächtig vermarkteten Schachwunderkindheit befinden sich Judit Polgar und Peter Lekö in harten Lehrjahren

Dortmund (taz) – Was ist aus ihnen geworden, aus der „Steffi Graf des Schachs“ und dem „Weltmeister des Jahres 2000“? Judit Polgar wird in zwei Wochen 20, Peter Lekö demnächst 17. Sie ist die einzige, die im Männersport Schach mithält, mithin die einzige Frau unter den ersten Hundert der Welt. Derzeit rangiert sie auf Platz 16. Er steht nur zwanzig Ränge tiefer und ist noch immer der jüngste Großmeister. Was die beiden jungen Ungarn bereits erreicht haben, kann sich sehen lassen, mutet freilich weniger spektakulär an als die Rekorde, die erst Polgar, dann Lekö vor Jahren jagten: jüngster internationaler Meister, bald darauf jüngster Großmeister aller Zeiten.

Heute stagnieren die Leistungen der beiden. Bei den Dortmunder Schachtagen kann man es sehen. Polgar und Lekö verloren ihre jeweils ersten beiden Partien. Daß sie erst in Runde drei ihre ersten halben Punkte sammelten, ist nur ein Zeichen ihrer Sinnkrise. Auf die erfolgreich vermarktete Wunderkindheit folgen harte Lehrjahre. Die großen Sprünge Richtung Weltspitze machen derweil andere: Der Bulgare Wesselin Topalow und der Russe Wladimir Kramnik, beide Jahrgang 1975, waren keine gefeierten Wunderkinder. Nun sind sie Nummer drei und vier der Welt und Favoriten für den Turniersieg in Dortmund.

Als nächster kommt vielleicht Sergej Movsesian. Der unbekannte Autodidakt aus Armenien ist nur wenige Monate älter als Lekö, steht aber in der Juli-Weltrangliste vor dem Ungarn. Während Lekö dank seiner Bekanntheit schon jede Menge Erfahrung gegen die Weltklasse gesammelt hat, konnte Movsesian von Turniereinladungen nur träumen.

Polgar wie Lekö hatten schon jede Menge Trainer und waren früh gewohnt, das Spiel sechs bis sieben Stunden am Tag zu studieren. Datenbanken haben den Zugriff auf Schachinformationen in den letzten Jahren immens erleichtert. Auswendig gelerntes Wissen spielt deshalb eine ungleich wichtigere Rolle als vor zehn Jahren, was zum frühen Erfolg der Computerkids beitrug. Im Vergleich mit früheren Generationen sind die beiden Ungarn in Sachen Schachentwicklung ihrem physischen Lebensalter eindeutig voraus.

Judit Polgar war die Schachkarrieren von ihren Eltern in die Wiege gelegt. Bereits an ihren älteren Schwestern Zsuzsa und Sofia hatte das Lehrerehepaar nachzuweisen versucht, daß Schachgenialität Erziehungssache sei. Während Mutter Klara die Töchter unterrichtete, um sie dem nivellierenden Einfluß der sozialistischen Schulen zu entziehen, kümmerte sich Vater Laszlo um Bibliothek, Trainingspläne und Schachaufgaben für die Mädchen. Die Arbeit an den Aufgaben begann nach nach dem Aufwachen und endete nicht vor dem Schlafengehen.

Sein Goldstück Judit war 1990 zwar noch weit von der Weltspitze entfernt, brachte gleichwohl als wohlfeiles Wunderkind bessere Starthonorare nach Hause als heute. Allerdings mußte Laszlo Polgar die Schwestern meistbietend verhökern, bis sich ein niederländischer Mäzen für sie begeisterte. In einem Spiegel-Interview nannte Judit damals ihre Lebensjahre von sieben bis neun die schwersten. „Es war die Zeit, als ich zwar Schach gespielt habe, aber noch keine Erfolge hatte.“ Ihre jetzige Krise erklärt sie denn auch mit „zuwenig Selbstvertrauen“. Dabei zeigte sie in Dortmund eher zuviel davon, als sie ihn Runde 1 eine Remisstellung gegen Robert Hübner überzog und verlor.

Mit Lekö liegt der Fall etwas anders. Er lernte die Regeln als Sechsjähriger während eines Adria-Urlaubs und vernarrte sich in das Spiel. Wann und was er trainiert, entscheidet er selbst. Seine alleinerziehende Mutter redet ihm da nicht rein. Daß er bei seinem letzten Turnier ganz ohne Sieg blieb, will er ausnahmsweise mit Schulprüfungen und Schnupfen entschuldigt wissen. Im Gegensatz zur Taktikerin Polgar sieht er sich als Stratege. Dafür ließ er sich gegen Michael Adams eine Kombination entgehen, „die meine Großmutter gesehen hätte“.

Was Experten von der absoluten Weltklasse erwarten, haben Lekö und Polgar noch nicht demonstriert: die Beherrschung komplexer Stellungen jenseits der gelernten Pläne und Kniffe. Mit derselben Begründung verweigert man die volle Anerkennung Gata Kamski (22), der derzeit in Kalmückien die Niederlage im FIDE- WM-Finale nach Kräften hinauszögert. Der Tatar mit US-Greencard zeige nur, wieweit man es im Schach mit harter Arbeit, aber ohne rechtes Talent bringen kann, argumentiert Garri Kasparow.

Judit Polgar bezeichnete der PCA-Weltmeister vor Jahren als „dressierten Hund“. Dabei sind die beiden Ungarn nichts im Vergleich mit ihm. Der schachverliebte Sowjetstaat hatte dem Kind Garri einen ganzen Trainerstab zur Seite gestellt, um sein Wunder an „Intuition“ zu vollbringen. Stefan Löffler