Aufputschpillen vor dem Physikum

Wenn StudentInnen anfangen, gegen den Prüfungsstreß Pillen zu schlucken, gibt's drei Möglichkeiten: Man tut was gegen den Streß, die Pillen – oder das Prüfungssystem. Doch die meisten schlucken nur  ■ Von Markus Grill

Die Pillen hat Oma besorgt. Einige Wochen vor seiner Prüfung hatte sie ihren Enkel Peter (Name von der Redaktion geändert) in Freiburg mal wieder angerufen und sich nach seinem Befinden erkundigt. Der Medizinstudent, damals im vierten Semester, erzählte seiner Oma, wie schlecht er sich konzentrieren könne und wie immens der Stoff sei, den er fürs Physikum pauken mußte. Nur drei bis vier Stunden am Tag konnte Peter sich damals an den Schreibtisch setzen und lernen. Danach ging nichts mehr.

Die Oma kannte solche Probleme. Ihr Mann war Arzt, der Sohn und die Tochter sind ÄrztInnen, und alle hatten ihrer Studienzeit Streß mit Prüfungen. Sie beruhigte Peter und versprach, ihm „etwas“ zu schicken: Per Post kam eine Packung mit Amphetamin- tabletten, ein Aufputschmittel. Für Peter war das ein Asterixscher Zaubertrank. „Nachdem ich das geschluckt hatte, war ich hellwach und konnte mich ganz aufs Lernen konzentrieren.“ Er habe sogar Lust gespürt, wenn er mal wieder eine Seite im Medizinbuch intus hatte und eilig zur nächsten umblätterte.

Na ja, Nebenwirkungen habe das Zeug natürlich auch gehabt. Er plapperte oft wie aufgezogen und merkte, daß sein Herz schneller schlug als sonst. Seine Kumpel baten gar, er solle das Zeug absetzen, weil er sich seltsam verändert habe in letzter Zeit. „Der Körper kennt keine Schmerzgrenze mehr“, sagt Peter und weiß heute, daß er sein Physikum dem Amphetamin verdankt.

StudentInnen mit Prüfungsstreß sind inzwischen auch ein Objekt von WissenschaftlerInnen: In seiner Studie „Medizinstudenten am Staatsexamen“ kommt Hans Ulrich Zweifel (Universität Zürich) zu dem Ergebnis, daß von den 164 Befragten 70 Prozent vor Prüfungen Medikamente einnehmen. Fast ein Drittel schluckt Schmerzmittel, jedeR sechste Schlaftabletten, jedeR siebte Beruhigungsmittel. Und acht von 100 ExamenskanditatInnen nehmen Aufputschmittel wie Peter. Auch Erwin Kohler, Professor für Physiologie in Zürich, staunt, wie viele Studierende Medikamente schlucken: „Die Nichtgedopten sind wohl in der Minderheit“, sagt er.

Prüfungsstreß ist auch das Motiv jeder/s dritten von insgesamt 400 StudentInnen, die die Psychotherapeutsche Beratungsstelle des Studentenwerks der Universität München aufsuchen. Die Zahlen in der Psychotherapeutischen Beratungsstelle in Freiburg sind ähnlich hoch. „Die meisten kommen erst nach Prüfungsversagen“, berichtet der Therapeut Albert Fersching. Die Prüfungssituation sei eine „Schwellensituation“, in der Krisen akut werden könnten.

„Meist sind aber auch andere Probleme im Spiel: mangelndes Selbstwertgefühl, sexuelle Probleme oder Kontaktschwierigkeiten.“ Und wie bei jedem Konflikt seien es vor allem „labile Persönlichkeiten“, die schneller zur Tablettenschachtel greifen. Die Zahl der Studentinnen liege dabei um 10 Prozent über der der männlichen Kommilitonen. Unterteilt nach Fächern sind es vor allem Studierende der Psychologie, Medizin, Jura, Germanistik und Biologie, die die Telefonnummer gegen Studienkummer wählen. „Die Prüfung“, sagt Fersching, „kommt Studierenden oft wie ein Tribunal vor, in dem sie selbst wenig steuern können; sie haben die Vorstellung, ohnmächtig zu sein.“

Einige ProfessorInnen trainieren inzwischen die Prüfungssituation mit ihren StudentInnen. Sie lassen Prüflinge Probeklausuren schreiben oder spielen in Kolloquien für ExamenskandidatInnen Prüfungen durch. Auch manche Krankenkassen haben in den letzten Jahren Kurse gegen Prüfungsstreß angeboten. Etwa die Barmer Ersatzkasse: Sie hat bis vor einem halben Jahr mit Studierenden Entspannungsübungen gemacht, Prüfungen imitiert oder Lerntechniken trainiert. Ein Sprecher der Kasse sagt, daß die Vorbeugung die Barmer immerhin billiger käme, als wenn die Kosten für psychosomatische Folgeerkrankungen extremer Streßsituationen bezahlt werden müßten. Doch das neue Gesundheitsstrukturgesetz untersage den Kassen diesen Service. Der Kurs, den die Barmer seit 1991 im Angebot hatte, wurde deshalb jetzt gestrichen.

Bei den meisten Studierenden kanalisiert sich der Prüfungsstreß aber in den bekannten Bahnen: Einige gehen öfter joggen als sonst, andere räumen ihr Zimmer picobello auf, saugen, schrubben die Dusche, gehen jeden Tag einmal einkaufen und kochen, verlängern den Ausweis, lassen Paßfotos machen oder entdecken plötzlich irgendwelche anderen Sekundärtugenden, die vor ihnen selbst als Ausrede gut sind, dem Schreibtisch mal für einige Zeit fernbleiben zu können.

Nicht die Symptome, sondern die Ursachen von Prüfungsstreß würde dagegen der Freiburger Medizinpsychologe Sebastian Goeppert gern bekämpfen. Er hält etwa die gegenwärtige Form der Zwischenprüfung im Medizinstudium für realitätsfern. „Das ist doch nur kurzfristiges Auswendiglernen, das nichts bringt.“ Gerade die Physikumsprüfung aber macht angst: „In der Schule konnte man noch alles lernen“, erklärt Studentin Sabine Kurka (21) das ungute Gefühl, „aber hier an der Uni geht das nicht mehr. Der Stoff ist so groß, daß man auf Lücke lernen muß.“

Die Prüfung selbst kann auch Mediziner Goeppert nicht ändern. Aber der Professor hat kleine Lerngruppen eingerichtet, die jeweils von StudentInnen in höheren Semestern geleitet werden. Die Studierenden sollen dabei einzelne Themen möglichst selbständig erarbeiten. Warum diese TutorInnen die besseren LehrerInnen sind, kann Goeppert auch erklären: „Rückmeldungen sind eher möglich. Einem Tutor kann man schon mal sagen, daß sein Unterricht heute schlecht war. Einem Professor gegenüber macht das keiner.“

Goeppert kann für sein Unterrichtskonzept Erfolge vorweisen. Seine StudentInnen lösen rund fünf Prozent mehr Prüfungsaufgaben als ihre KommilitonInnen im Bundesdurchschnitt. Trotzdem werde sich sein Modell nicht durchsetzen, vermutet er – „in Freiburg geht eben alles noch ein bißchen altväterlich zu“.

Geoppert glaubt zwar auch, daß der Medikamentenkonsum zunimmt, wenn der Prüfungsdruck wächst. Doch insgesamt sieht er keine steigende Tendenz zum Tablettenschlucken. Denn obwohl die Ausbildungssituation an der Uni sich verschärfe und die Berufschancen sich verschlechterten, seien viele StudentInnen heute resistenter gegenüber Prüfungsstreß, weil sie – pragmatischer als frühere Generationen – die Anspannung in ihrer Freizeit auszugleichen versuchen.

Und nicht jede Medikamenteneinnahme sei von Übel, meint selbst Goeppert. Er selbst würde jemandem kurzfristig Aufputsch- oder Beruhigungsmittel geben, wenn der damit umgehen könne. Deshalb bekomme auch seine Tochter, die Jura studiert, einen Betablocker vor der Prüfung. MedizinstudentInnen halten sich vor allem an Betablocker. Sie wirken entspannend, so der angehende Mediziner Ralph Schäfer – und sie bewahren vor nassen Händen in der Prüfung. Über Betablocker könne man auch ruhig reden unter KommilitonInnen. „Da hat man noch das Gefühl hat, daß es witzig ist.“ Witzig fand es auch die Geschichtsstudentin Dagmar (26), als sie vor ihrer Prüfung von ihrer Mutter ein Päckchen mit Vitamin-, Baldrian- und Schmerztabletten per Post bekam. Ein Cocktail, den manche nehmen – zumindest um mit dem Aspirin die Kopfschmerzen nach nächtelangem Durchlernen zu bekämpfen.

Peter hatte dank Amphetamin keine Schwierigkeiten mit dem Durchlernen. Doch er will jetzt loskommen von dem Zeug. Er hat gemerkt, daß er häufiger in Depressionen verfällt, seit er das Mittel nimmt, das seine Oma ihm geschickt hatte. In einigen Monaten macht Peter sein Examen. Und er will nicht mehr nur fürs Studium leben, sagt er sich heute. „Für eine Prüfung die Gesundheit ruinieren ist doch Schwachsinn.“

Und wenn er ohne Amphetamin wieder nur ein paar Stunden am Tag lernen könne, sei das auch nicht so tragisch. Vorsichtshalber hat er sich für die Examensnote ein neues Motto zurechtgelegt: „Vier gewinnt!“