Der Pappkarton für die Sparkasse

Zwischen Sofakissen, Schweinshäuten und Matisse-Anekdoten: Warum ist Kunst mit Ortsbezug bloß so albern geworden? Der Kasseler Kunstverein zeigt „Surfing Systems. Die Gunst der 90er – Positionen zeitgenössischer Art“  ■ Von Martin Pesch

Nichts bleibt in dieser Ausstellung unversucht. Man kann sich in Pappkartons mit Rädern unten dran durch die Räume schieben lassen. Oder man kann sich mit einem für Schizophrene konzipierten Brettspiel vergnügen. Oder sich in einem Sofa räkeln und Video gucken. Selbstverständlich gehört zu dieser Art Inszenierung ein fetziger Ausstellungstitel, ein leicht ironisierender Untertitel, ein umfangreiches Textbuch mit CD- ROM und Audio-CD, ein gutgelaunt betitelter („SuSy-Megazine“) Katalog, flankierende Vorträge, Parties und Videoprogramme.

Der Kasseler Kunstverein greift mit „Surfing Systems“ eine aktuelle Entwicklung innerhalb der Kunstszene auf, die sich bisher eher in Off-off-Galerien und den ersten Semestern hiesiger Kunstakademien etabliert hat. Es ist eben die „Gunst der 90er“. Holger Kube Ventura, der zusammen mit Bernhard Balkenhol die Gruppenausstellung konzipierte, nennt diese aktuelle Richtung „Kontextkunst zweiten Grades“. Was heißt das? Wie sieht das aus? Und was war noch mal Kontextkunst ersten Grades?

Anfang der neunziger Jahre bestand Handlungsbedarf. International (neue Weltordnung), national (Wiedervereinigung), lokal (Schließung des Frauenhauses), medial (300 Fernsehsender, Internet) hatte sich die konservative Wende durchgesetzt. Die Kunst bot demgegenüber einen Freiraum, in dem einerseits auf die vielfältigen Repressionen aufmerksam gemacht werden konnte und der andererseits Möglichkeiten des Eingreifens in politische und soziale Verhältnisse bot. Kunstvereine wurden zu Radiostationen, Ausstellungsetats wurden zum Druck von Zeitungen verwendet, Ausstellungsbeiträge bestanden aus Dokumentationen einer Obdachlosenhilfe-Aktion, sie thematisierten das demographische Gefüge im Nahbereich des jeweiligen Ausstellungshauses oder offerierten das Angebot, sich an einer abendlichen Studiengruppe zu Judith Butler zu beteiligen.

Daß Kunst Stellungnahme zu politischen und kulturellen Begebenheiten wurde und nicht mehr nur Ausdruck individueller Eigenheiten war, brachte auch das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Markt durcheinander. Konnten sich Institutionen mit Toleranz und Privatgalerien am Rande des Bankrotts wenigstens mit einem guten Ruf schmücken, wenn sie in Kontextkunst einstiegen, mochten sich SammlerInnen nur ungern Tabellen oder selbstrecyceltes Plastik in die gute Stube hängen. Kontextkunst funktioniert nur im Bezug auf den Kontext, den sie sich jeweils gesucht hat. Das wurde insbesondere bewußt, als der Sammler Schürmann seine Kollektion im letzten Jahr in Hamburg präsentierte. Was zuvor inhaltlich eine gewisse Relevanz hatte, stand nun dumm herum und sah langweilig aus.

Die erwähnten Defizite, über deren Problematisierung die Rolle der Kunst immerhin wieder diskutiert wurde, sind Ausgangspunkte von „Surfing Systems“. Auch die hier vertretenen KünstlerInnen beschäftigen sich mit Kontexten, bringen unterschiedliche, kunstfremde Systeme in ihren Arbeiten miteinander in Beziehung. Diese Systeme werden aber nicht mehr inhaltlich thematisiert. Dagegen wird der Umgang mit diesen Systemen, das „Surfen“, als spielerische Angelegenheit etabliert. Hier wird also Kontextkunst gezeigt, die keinerlei politischem Anspruch mehr unterliegt und so in erster Linie dem Vorwurf, es ginge hier moralisch zu, ausweicht. Kontextkunst light.

Leider kommt dabei kaum mehr zum Vorschein als manch flacher Witz. Die schon angesprochenen fahrbaren Pappkartons mit applizierten Hydrokulturen und Gardinchen (Nina Fischer & Maroan El Sani) bleiben Spielzeug, weil sie als Metapher für (Not-)Unterkünfte keinen Kommentar bilden zu ihrer Umgebung (außer im Kunstverein stehen sie in einem Hotelfoyer und einer Sparkasse). Ken Lums überdimensioniertes Sofakissen wirkt genauso erzwungen wie die tätowierten Schweinshäute von Wim Delvoye. Hier kommt die Ästhetik zurück. Und daß man Anton Henning viel Platz einräumte, indem man seine kleine Idee, ein von Matisse übernommenes Muster, verschiedentlich (in Gemälden, Fenstermalerei, Stoffbezug, Video) auftauchen ließ, kann einen schon zum Verzweifeln bringen. War ein künstlerischer Kommentar zur Kunstgeschichte jemals alberner?

Zwei Beiträge fallen etwas aus dem Rahmen. Olav Westphalen dokumentiert den Bau eines Baumhauses, das vor Ausstellungsbeginn in einem Wald nahe von Kassel entstand. Mit unterschiedlich gestalteten Handzetteln (für Kindergärten, Discos, Kunsthochschule) und Anzeigen hatte er Leute gesucht, die ihm dabei halfen. Das fertige Produkt liegt nun vor dem Fridericianum. Im Gegensatz zu der Offenheit dieses Projekts begibt sich Eran Schaerf auf für ihn typische Weise in ein Feld kryptischer Andeutungen und Assoziationen. Seine Arbeit „Calling for the phraseI“ besteht aus einem Zickzack vom Boden zur Decke laufenden Stoffband, in das hintereinander das Wort „word“ gestickt ist. Am Ende (oder Anfang) des Bandes hängt ein Mantel aus silbernem Plastik. Schaerfs Arbeit ist situiert in den Kontexten Techno(logie) und Sprache und kommentiert bei aller Verschlossenheit deren Verhältnis, ohne in ein Plappern zu geraten, das die eigene Stellungnahme als nicht ganz ernst gemeinte markiert.

„Surfing Systems. Die Gunst der 90er – Positionen zeitgenössischer Art“. Kunstverein Kassel, bis 4.August. Im Verlag Stroemfeld/ Roter Stern ist das gleichnamige Buch erschienen