„Ich such' dich im Bordell ...“

Harmonisch wie Grand-Prix-Siegerinnen: Ob Jane Birkin, Françoise Hardy, Brigitte Fontaine oder Zizi Jeanmaire – gegenwärtig ist französischer Chanson weiblich  ■ Von Reinhard Krause

„Oh nein, die hab ich auch noch nicht! Und die! Und die!“ In den bundesweit vielleicht zwanzig gutsortierten Chansonabteilungen deutscher Plattenläden – dort, wo sich sonst Fuchs und Hase gute Nacht sagen – ist zur Zeit schon mal was los: Pulks von aufgeregten 13jährigen Mädchen verhandeln hektisch über die Aufteilung der Céline-Dion-Bestände.

Für Frankreichs Chansonelite ist der weltweite Erfolg der sowohl englisch als auch französisch singenden Kanadierin natürlich ein klein wenig beschämend. Denn das französische Chanson präsentiert sich zur Zeit in blendender Verfassung. In den letzten Monaten gab es eine wahre Schwemme interessanter Neuerscheinungen. Etwa die ausgesprochen zuckrige CD „Valérie Lemercier chante“ (Tricatel/BMG), auf der die optisch eher herbe Valérie im gruseligsten Happysound badet, oder „La mémoire neuve“ (Lithium/ Virgin France) von Dominique A, den Kritiker bereits als kommenden Klassiker handeln.

Die eigentliche Überraschung sind jedoch die längst kanonisierten weiblichen Chansonlegenden, die vor einem Vierteljahrhundert auf dem Zenit standen und jetzt, wo es, weiß Gott, niemand mehr von ihnen verlangt, wie auf Verabredung noch einmal zeigen, was sie berühmt gemacht hat.

Jane Birkin zum Beispiel fragte nach dem Tod ihres einstigen Lebensgefährten vor fünf Jahren ratlos: „Was kann ich nach Serge denn noch singen?“ Inzwischen hat sie eine verblüffend ausweichende Antwort gefunden: Nun – Gainsbourg! Doch nicht genug, daß die „Engländerin mit der Katzenstimme“ auf „Versions Jane“ (Phillips/Mercury) Gainsbourg- Klassiker nachsingt, nein, sie okkupiert auch gleich einige Lieder, die er einst für Stars wie Deneuve oder Adjani geschrieben hatte. Gibt man Haute Couture in die Änderungsschneiderei?

Doch alle denkmalpflegerischen Vorbehalte schwinden angesichts der Freude, mit der auf dieser Platte bislang „gültige“, ja sakrosankte Versionen geschlachtet werden. Gleich der Opener ist ein Meisterwerk des Suspense: Jean- Claude Vannier, Frankreichs absoluter Stararrangeur in den frühen siebziger Jahren, orchestriert „Ces petits riens“ wie einen Bernard- Herrmann-Soundtrack für Hitchcock. Die Négresses Vertes wiederum machen aus „La gadoue“, Petula Clarks betulichem Song über einen verregneten Englandurlaub, einen feuchtfröhlichen Sommerhit. Und Goran Bregović („Die Bartholomäusnacht“) zelebriert Françoise Hardys berühmtes „Comment te dire adieu“ als ins Besoffene abgleitenden afrikanischen Trauermarsch.

Jeden Titel einem anderen Arrangeur anzuvertrauen, hätte geradewegs in die Katastophe führen können. Doch die meisten der 15 „Versions Jane“ strotzen vor Selbstbewußtsein, ohne den versions originales einen Tort anzutun. Da wird aus dem beatigen „Ford Mustang“ ein Ambient- Groover, „Elaeudanla Téitéita“ mutiert zur Orgelanleitung für Lounger, und nicht einmal die Harfenbegleitung zu Deneuves „Dépression au-dessus du jardin“ wirkt im geringsten peinlich. Endlich wieder einmal beweisen die Franzosen, daß sie abseits der Pop- Perfektion angelsächsischen Zuschnitts eine zugleich elegante wie erwachsene Popmusik hervorzubringen verstehen.

Ein anderes dieser bourgeoisen Meisterwerke erschien 1974: „Entr'acte“, gewissermaßen Françoise Hardys Abschied in den Mutterschaftsurlaub. Danach nahm sie zwar noch eine Handvoll Alben auf, mit dem Herzen allerdings schien Frankreichs ultimative Sixties-Ikone nicht mehr bei der Sache zu sein. Inzwischen jedoch begleitet Sohn Thomas seinen Papa Jacques Dutronc auf dessen neuer CD, und Françoise Hardy legt nach etwas touristisch geratenen Duetten mit (man höre!) Malcolm MacLaren und (man staune!) Blur ihr erstes Album seit acht Jahren vor.

Auch ihr gelingt eine unerwartete Überraschung: Nach den immer etwas zu glatten und synthetischen Arrangements der letzten Alben findet die inzwischen 52jährige zur melancholischen Intimität ihrer frühen Aufnahmen zurück. Merkwürdig, daß es ausgerechnet mit einer kleinen, aber für Chansonverhältnisse lauten Rockbesetzung aus Schlagzeug, E-Gitarre und Keyboards gelingt, Hardy möglichst leise und eindringlich singen zu lassen.

„Am besten singe ich“, hat sie einmal ihr Erfolgsrezept erklärt, „wenn ich unglücklich bin.“ Arme Françoise. Denn selten sang sie besser. Zu Kummer und traurig schönem Gesang hat sie nach dem Scheitern ihrer fast drei Jahrzehnte währenden schwierigen Beziehung zum schwierigen Dutronc allerdings auch guten Grund.

Nach den Liebesliedern der späten sechziger Jahre und den allmählich überhandnehmenden Klagen über mangelnde Kommunikation ist „Le danger“ (Virgin France) eine Reflexion des endgültigen Bruchs – ob nun in kunstvolle Metaphern gehüllt wie in „Les Madeleines“ oder in deutliche Worte, die aus dem Mund der sonst so diskreten Hardy doch ein wenig schockieren: „Tut mir leid, daß ich dich im Bordell anrufe, aber ich such' dich überall“ („Ici ou là?“). Hartherzige und Dutronc-Fans mögen die neuerliche Intensität der Hardy vielleicht als einen Mangel an lyrischer Distanz abtun. Lieder wie „Le danger“, „Dix heures en été“ oder „Tout va bien“ überstehen auch solche Rationalisierungen und sind immer noch aufs angenehmste todtraurig.

Auch aus der Sparte „große Exzentrikerinnen“ ist musikalisch Erfreuliches zu berichten. Zizi Jeanmaire, in Deutschland bestenfalls als Tänzerin wahrgenommen, hat eine neue Show aus ihren früheren Arbeiten mit – na? – Serge Gainsbourg zusammengestellt und eine CD daraus gemacht, „Zizi au Zénith“ (WMD). Zizi, inzwischen sehr gut über sechzig, mag zwar das künstlichste Geschöpf des internationalen Showgeschäfts sein, aber sie ist auch die erste, die darüber lacht. Ihre Chansons leben zuallererst von ihrer rostigen Stimme, die übrigens auch in jungen Jahren nie anders klang, und von tausend frenetischen Anleihen beim Karneval von Rio.

Wem Zizi Jeanmaire nicht auf die Nerven geht, dem werden gute Laune und Herzenswärme beschert. Auch wenn unter dem manchmal etwas bemüht modernistischen Gewand, das ihr die Livemusiker von Gainsbourg verpaßt haben, ab und zu ein Odeur von Zirkusluft und Oben-ohne-Girls mit Federbüschen mitschwingt: Zizis Begegnung mit „King Kong“ ist Popmusik als Comic strip.

Nicht minder exzentrisch ist Brigitte Fontaine. Die hat man sich als fast schon erschreckend intensive und extrem hagere Gabriele Krone-Schmalz vorzustellen, die sich in Sonia-Rykiel-Outfit zu einem Fledermausball aufmacht, bei dem sie selbstredend den Vorsitz führt. Im Gegensatz zu ihrer ausgemergelten Erscheinung ist ihre Stimme jedoch überraschend fest und gesund.

Auf ihrer neuen CD „Genre humain“ (Virgin France) singt sie mal harmonisch wie eine französische Grand-Prix-Siegerin, mal schneidend blasphemisch wie Diamanda Galas. Mit dem Unterschied, daß Galas kaum die Souveränität besäße, einen Text wie „Ich kann keine E-Gitarre spielen! Ich kann keine Fremdsprache! Ich kann nicht mal einen Staubsauger bedienen, weil ich so doof bin!“ auszuspucken, während im Hintergrund die Avon-Beraterin an der Türglocke eines Beerdigungsinstituts Dauerklingeln übt.

Schon 1968 sorgte Fontaine für böses Blut, als sie in einem ihrer Chansons bis zur Sinnlosigkeit Revolutionsparolen aneinanderreihte und das Ganze mit höfischer Musik unterlegte. Solch maliziöse Distanz zu Vereinnahmungsmöglichkeiten hat die Sängerin, Schauspielerin und Romanautorin mit einer permanenten Undergroundexistenz bezahlt. „Ich war nie in einem Initiationsorden“, lamentiert sie in „Conne“, und es ist nicht auszumachen, ob sie ihr Außenseitertum tatsächlich noch in irgendeiner Weise bedauert oder nicht schon längst als ihre künstlerische und persönliche Conditio sine qua non begreift.

Um so erstaunlicher, daß die Individualistin, deren Platten nie die Fnac-Verkaufscharts erreichen werden, von Virgin eine erstklassige und zeitgemäße Produktion finanziert bekam. Verblüffend auch, daß ausgerechnet Schmusesängerin Etienne Daho als Produzentin für die scharfen Töne („Genre humain“, „Comme à la radio“, „Conne“) auf diesem Album verantwortlich ist.

Letzte Meldung: Auch Michel Polnareff soll an seinem Comeback basteln. Jawohl, Polnareff! Mag der exaltierte Lamettamann auch noch so heterosexuell sein und zur Zeit wie Cindy Berger mit Porschebrille aussehen – auch er ist unbedingt zu den großen, älteren Damen des französischen Chansons zu rechnen. On verra!