Digitale Südkurve

■ Bertelsmann und "Kicker" bitten zur Euro '96 an den virtuellen Stammtisch

„Fußball gemeinsam gucken!“ Die Parole ist von Stadtmagazinen und Lokalblättern quer durch die Republik ausgegeben worden. Wahre Happenings rund um die Glotze locken von Kiel bis Konstanz, und in Berlin blüht das kollektive Fanwesen mit Kultur und Saalwette. Trotz der in Permanenz tagenden Fußballräte allerorten gibt es aber Telemuffel, die sich in diesen Wochen durch nichts und niemanden aus der heimischen Polstergarnitur locken lassen.

Solchen ZeitgenossInnen, denen zwar der Weg zur nächsten Eckkneipe zu weit ist, die aber trotzdem ein Publikum für ihre ExpertInnenschaft suchen, ist in digitalen Zeiten ein ideales Medium erstanden: Deutschlands bekanntestes Fußballblatt, der Kicker, hat zusammen mit AOL Bertelsmann Online, den elektronischen EM- Service Kicker Online ins Netz gestellt. Die Euro '96 kommt per Modem auf den Heim-PC. Basierend auf dem Euro '96-Sonderheft des Fußballmagazins bietet Kicker Online den AOL-KundInnen Spielberichte, Hintergrundstories, EM-Historie und jede Menge Statistik. Wem Rubenbauer und Konsorten zu freischwebend daherfabulieren, der findet im elektronischen Kicker die harten Facts.

Neben Torschützenhitlisten und Klinsi-Foto mit Körpermaßen lockt der Service den Fan aber auch mit ganz anderen Leckerbissen: Das eigentliche Herzstück von Kicker Online sind aber seine interaktiven Mitmachmöglichkkeiten. Wer auf einen applizierten Fußballstiefel mit der Bildunterschrift „Mitmachen“ kickt, der betritt die digitale Ostkurve des Dienstes. Im „Chat-Forum“ oder auf den „Pinboards“, elektronischen Wandzeitungen, formuliert sich Volkes Stimme. Dort toben fußballerische Glaubenskämpfe zwischen Fundis und Realos, Berti-FreundInnen und nationalen DefätistInnen. Türkeifans beharkten die Kroatienfraktion, und dazwischen gießen antinationale Schüttelreimer Essig ins Pausenbier.

Auffallend dabei die starke Lobby der Fußballzwerge. Türkische Onliner priesen ihr Team als künftigen Europameister, „weil wir zwar nicht die schönsten Trikots, dafür aber die schönsten Spieler haben“. Vorbei die Herrlichkeit. Ein Kroatiensympathisant gab sich sicher, daß die EM- Neulinge „als einzige Mannschaft mit Nationalstolz“ auf dem Weg zum Titel seien. Seit Sonntag wissen wir es besser.

Neben solch Patriotismus gibt es auch Spaßmacher, die im Net Zuflucht aus ihrer Langeweile suchen. „Mein Tip: Georgien! Die sind doch dabei?“ Natürlich nicht. Genauso wenig wie „Brasilien!“ oder „Barsbüttel“. Lesenswerter sind da die gelben Karten für die Fußballmoderatoren der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Besonders Heribert Faßbender wird in Kicker Online mit systematischem dissing belegt. Ein erboster Diskutant fordert per E-Mail: „Faßbender zum Stummfilm“ und trägt beispiellose Stilblüten aus dem Faßbenderschen Nähkästchen zusammen. Andere mutmaßen, daß die ARD einen „Schönredevertrag“ mit den Organisatoren der EM abgeschlossen haben.

Platz zwei der „Saure Gurken“- Charts belegt erwartungsgemäß Bundestrainer Berti Vogts. „Wer die halbe Mannschaft mit miesen Bayern vollsteckt, muß scheitern“, hält man ihm vor, ruft nach Stefan Effenberg und schickt gleich eine alternative Teamaufstellung hinterher: „Stephan Studtrucker, Michael Molata und Rolf Voigt!“ Gunter Becker