Eine Orgie in Plüsch und Einsamkeit

■ Bohnerwachs und andere märkische Freuden: Das Filmfestival in Potsdam hat sich trotz höchst pikanter Dokumentarspecials als Familienprogramm etabliert

Abend für Abend sechshundert, siebenhundert, achthundert. Der Platz vor dem Brandenburger Tor ist überfüllt. Sie haben Decken mitgebracht und Kissen, Luftmatratzen und Isoliermatten, manche auch eigene Sessel und Stühle. Manche sind schon vor einer Stunde und mehr gekommen und haben hier erst einmal gegessen.

Die Vorstellungen wären ausverkauft, wenn sie etwas kosten würden. Tun sie aber nicht. Das Filmfestival Potsdam will auch Volksfest sein. Noch kann es sich das leisten, denn es wird gefördert, gesponsert und zärtlich geliebt. Keine ganz junge Pflanze mehr, aber nach dem „4. Europäischen Salon für Liebhaber des jungen Films“ noch alles andere als baumstark. Und dann braucht's auch ein wenig Equilibristik, um alles, was dort unter freiem Himmel geschieht, zum jungen Film zu rechnen. Was bei „Funny Bones“, „Keiner liebt mich“ und den „Liebenden von Pont-Neuf“ in Ordnung gehen mag, läßt sich bei „Eins, zwei drei“ aus dem Kalten Krieg nur dadurch begründen, daß Billy Wilder gerade neunzig wird. Was seiner Jugend unter den Jungen nichts anhaben kann. Regisseure wie Sönke Wortmann berufen sich auf ihn, in ihren Filmen und wortwörtlich in Potsdam vor Ort. „Lust auf Komödie“ heißt eines der „Salongespräche“, und ein anderes ist Billy Wilder gewidmet, mit Hellmuth Karasek, der sein neues Billy-Wilder-Buch, noch'n Buch, ein bißchen promoten darf.

Noch bleibt das Programm dabei überschaubar. Wo das Filmmuseum unabhängig vom Festival zur Zeit eine Billy-Wilder-Retro veranstaltet, hat das Festival vier Filme des österreichischen Dokumentarfilmers Ulrich Seidl eingeladen. Nach Mühl und Nitsch und Wolfgang Bauer, den antibürgerlich-anarchistischen Materialkünstlern, Aktionisten und Kotzfilmern der sechziger Jahre, hat auch Seidl es auf das Bürgerliche am Bürgertum, das Spießige an den Spießern abgesehen. Sein Film „Tierische Liebe“, der den Festivalpreis als bester Dokumentarfilm erhält, ist eine Orgie in Plüsch und Einsamkeit, Isolation und Spitzendeckchen, Sodomie und Bohnerwachs. Immer wieder in den annähernd zwei Stunden ist das Dekor nicht weniger ekelhaft als die Sabbelei zwischen Menschen und Hunden, die Rangeleien und die Liebesgedichte. Sie lieben ihre Tiere paarweise oder allein, und sie zeigen sich mit ihnen vor die Kamera, einer so nackt wie sein Hund, oder ein Paar, das Gleichgesinnte sucht.

Doch niemals stellt sich in den Filmen dieses Spät-Wieners die Frage nach Sympathie oder Antipathie, nie das Problem des Voyeurismus. Auch „Good News“ über die Verkaufsmethoden einer Wiener Boulevardzeitung oder „Die letzten Männer“, in dem sich österreichische Männer mit ihren sanftmütigen asiatischen Frauen brüsten, oder „Mit Verlust ist zu rechnen“ über die vergebliche Werbung eines österreichischen Witwers um eine im tschechischen Nachbardorf lebende deutschstämmige Witwe: Alle diese Film leben davon, daß sich Menschen darstellen und produzieren wollen. Alle profitieren vom Exhibitionismus, den Seidl in starren Einstellungen auf starr stehende Leute zugleich stilisiert und nachahmt.

Sonst wenig Neues in Potsdam – aber klug bei anderen Festivals ausgesucht. Wo „Bye, Bye“ von Karim Dridi von nordafrikanischer Einwanderung nach Frankreich erzählt, und „Tot ziens“ (Auf Wiedersehen) der Holländerin Heddy Honigmann ein Amour- fou-Melodram zeigt, explodieren zwar Leidenschaften, nicht jedoch filmische Kreativität. Die findet sich eher in einem Film des Ungarn Péter Gothár („Ein Lagermärchen“) oder in „The Institute Benjamenta“ der Brothers Quay. Gothár erzählt ein russisches Volksmärchen über Meisterdiebe nach, mit Figuren wie von Gogol und Chagall zugleich, und die Brüder Quay folgen dem Roman „Jakob von Gunten“ von Robert Walser. Und in beiden Fällen scheint die literarische Vorlage zu neuen Formulierungen der Filmsprache zwischen Kafka und dem Surrealismus zu ermutigen.

Den Spielfilmpreis von Potsdam bekam „La promesse“ der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Es ist, aus Cannes importiert, einer jener zuversichtlichen Filme, die aus der Begegnung mit dem Fremden ihre dramaturgische Energie holen und sich für eine menschliche Lösung des Konflikts stark machen. Und doch gibt es gerade in diesem ästhetisch wie moralisch ungemein geradlinig erzählten Film über illegale Arbeit und einen vertuschten tödlichen Unfall einen der schönsten Augenblicke des Festivals. Es ist der Moment, in dem der Sohn den Vater verrät, um der Wahrheit und eines Versprechens willen, und die Kamera zeigt die Reaktion nur im Verharren eines Schritts, im Erstarren eines Rückens.

Das Festival in der märkischen Heide muß größer werden und klein genug bleiben. Eine schwierige Aufgabe für die Gärtner, wo doch der Park von Sanssouci in der Nähe liegt. Peter W. Jansen