■ Reduzierung der Bruttolöhne, flexiblere Arbeitsverhältnisse, Reform der Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung - so lautet die Therapie des Chefökonomen der Deutschen Bank, Norbert Walter, für die marode deutsche Wirtschaft
: Für Vo

taz: Herr Prof. Walter, Sie haben im letzten Jahr vor einer Depression wie in den dreißiger Jahren gewarnt. Inzwischen wird für dieses Jahr fast ein Nullwachstum prognostiziert. Folgt der Stagnation nun der Absturz?

Norbert Walter: Nein. Es sieht so aus, als ob die internationale Situation uns helfen könnte. Die Zuwachsraten in den USA liegen bei etwa 3 Prozent, besser als erwartet. Zugleich ist der Dollar stärker geworden. Beide Entwicklungen geben uns die Chance, wieder einmal ein bißchen mehr vom internationalen Kuchen abzubekommen. Im Inland muß man nach wie vor um die wirtschaftliche Situation zittern, weil eine ganz merkwürdige Mischung von Beharrungs- und Veränderungskräften am Werk ist, die dazu führen könnte, daß am Ende wieder nur halbherzige Schritte getan werden – mit schädlichen Wirkungen insbesondere für die Arbeitslosigkeit.

Wer sind die Beharrungskräfte?

Ganz eindeutig wirken starke Beharrungskräfte in den Volksparteien, die in den letzten 40 Jahren immer wieder alte Strukturen verteidigt und erhalten haben. Gleiches kann man von einigen Gewerkschaften sagen, die einfach nicht willens sind, die Entscheidungen mitzutragen, die erforderlich sind, um einen Strukturwandel zu bewirken. Wir verteidigen in Deutschland ein Industriemuseum, während sich andere Länder frisch und bisweilen sogar mutig auf eine Gesellschaft zubewegen, in der die Dienstleistung einen angemesseneren, bedeutenderen Platz einnimmt. Das Ergebnis ist, daß wir das Geld von Steuerzahlern für Subventionen und sogenannte Sozialpolitik ausgeben, nicht als Hilfe zur Selbsthilfe, sondern dauerhaft. Das führt bei Arbeitnehmern wie Unternehmern zu Lethargie und macht uns markt- und zukunftsunfähig.

Ihrer Analyse, wonach der „überzogene Sozialstaat“ den Kern der aktuellen Krise ausmacht, wird von anderen Wirtschaftswissenschaftlern heftig widersprochen. Wer – wie die Bundesregierung – in der aktuellen Situation auf Kostendämpfung setze, kürze Einkommen und Nachfrage und verstärke dadurch die Krise, lautet etwa das Argument des Frankfurter Ökonomen Wilhelm Hankel. Konjunkturell bedingte Mindereinnahmen und Mehrausgaben sollten nicht durch Sparen, sondern durch neue Kreditaufnahmen ausgeglichen werden.

Es gibt modernere Ökonomen als Herrn Hankel. Zum Beispiel den früheren SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller. Der hat in einer ähnlichen Situation wie heute von der Notwendigkeit des Jätens und Säens gesprochen – und zwar in dieser Reihenfolge: jäten und säen. Glaubwürdigkeit gewinnt die deutsche Finanzpolitik nicht, wenn sie so tut, als könne sie angesichts der aufgelaufenen Probleme in der Kranken-, Renten-, und Arbeitslosenversicherung einfach so weiterfahren wie bisher. Sehr unvernünftig wäre es aber – und da hat Hankel recht –, wenn der Staat sich jetzt aus Geldmangel bei Investitionen, etwa zur Verbesserung der Infrastruktur, zurückhielte. Aber auch in diesem Bereich kann man die alten Trampelpfade verlassen. Wer etwa nach Rostock schaut, der kann dort sehen, daß sich zum Bau und Betrieb eines Wasserwerkes auch private Lösungen finden lassen. Das sind modernere Antworten auf die schwierigen Herausforderungen als die von Herrn Hankel, die mir so ein bißchen vorkommen, als sei er über die Lehrbücher der späten sechziger Jahre nicht hinausgekommen.

Eine Lehrbuchthese, die Ihnen sehr zusagt, lautet so: Die Gewinne von heute sind die Investitionen und Arbeitsplätze von morgen. Wenn diese Lehrbuchthese zuträfe, müßten wir Arbeitsplätze satt haben, denn die Gewinne und Einkommen aus Unternehmertätigkeit sind in den letzten 15 Jahren ja wesentlich stärker gestiegen als die Löhne.

Wir sollten endlich einmal aufhören, all das, was neben den Einkommen aus unselbständiger Arbeit in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als Einkommen ausgewiesen wird, als Gewinne zu interpretieren. Da sind Pachten, Zinsen, Dividenden und alle Residualeinkommen enthalten. Dort schlägt sich natürlich auch nieder, daß wir seit 1985 mehr Selbständige haben. Die Vermögenseinkommen der privaten Haushalte betragen inzwischen auch schon 10 Prozent der Gesamteinkommen. Das wird immer unterschlagen. Es gibt aber in der Tat einige Unternehmensbereiche, die nicht nur über längere Zeit, sondern auch in den letzten Jahren gute Gewinne gemacht haben. Wer genauer hinschaut, stellt indes oft fest, daß diese Gewinne aus dem internationalen Engagement der Unternehmen herrühren. Wer sieht, daß seine Gewinne überwiegend aus den Auslandsgeschäften resultieren, wird natürlich auch in der nächsten Runde eher wieder im Ausland investieren. Dann ist zwar immer noch richtig, daß die Gewinne von heute die Investitionen von morgen sind, aber es sind keine Investitionen in Deutschland. Hier in Deutschland muß nach Steuern so viel übrigbleiben, daß es einen Anreiz gibt, sich anzustrengen und Risiken einzugehen. Dabei kommt es für die internationale Verteilung von Investitionen nicht nur darauf an, ob wir uns absolut in die richtige Richtung bewegen, sondern wie wir im Vergleich zu anderen Ländern dastehen. Wenn die anderen schneller sind, fallen wir auch bei einer Bewegung in die richtige Richtung weiter zurück. Das ist die Situation.

In Tschechien betragen die Löhne ein Sechstel des hiesigen Niveaus. Weiter östlich ist das Verhältnis noch ungünstiger. Wenn wir uns auf dieses Rennen einlassen, droht doch die ganze Volkswirtschaft in eine gefährliche Abwärtsspirale zu geraten.

Das amerikanische Lohnniveau liegt wesentlich über dem tschechischen, und dennoch sind sie im internationalen Vergleich vorangekommen. Niemand kommt auf die verrückte Idee – und der Markt verlangt das natürlich auch nicht –, daß Deutschland oder die USA sich auf das unterste Lohnniveau begeben müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Wir brauchen in Deutschland nicht das ukrainische Lohnniveau, aber wir sind durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs relativ abrupt mit durchaus gleich gut ausgebildeten Menschen auf der anderen Seite Europas konfrontiert, und das bedeutet, daß wir einen nennenswerten Rückschlag bei der Lohnentwicklung akzeptieren müssen. Ich glaube nicht, daß ein Bruttolohnabschlag von mehr als 20 Prozent nötig wäre, um wieder die Vollbeschäftigung zu erlangen.

Bei einem solch massiven Einkommensverlust wären doch massive Nachfrageausfälle die andere Seite der Medaille. Die Produzenten blieben auf ihren Waren sitzen, die Gewinne schrumpften und die nächste Lohnsenkungsrunde stünde bevor.

In der ersten Runde ist das so, wie Sie es beschreiben, aber niedrigere Kosten werden auch in einer Reihe von Branchen zu niedrigeren Preisen führen. Durch das Mehr an Beschäftigung wird der Nachfrageausfall in den folgenden Perioden mehr als ausgeglichen.

Gerade die USA gelten ja inzwischen als Vorzeigemodell beim Abbau der Arbeitslosigkeit. Doch die meisten der seit 1993 geschaffenen 8,3 Millionen Jobs sind Billigjobs. Nach Angaben des Havard-Professors Andrei S. Markowitz ist nur ein Fünftel dieser Jobs so dotiert, daß die Beschäftigten tatsächlich ein ausreichendes Einkommen erzielen.

Seit Thomas von Aquin, seit der katholischen Soziallehre geistert in der deutschen Gesellschaft die Hypothese herum, daß jeder, der jemanden beschäftigt, demselben einen Familienlohn zahlen muß. Jeder, der einen Lohn unter diesem Niveau zahlt, gilt als Ausbeuter. Das ist eine liebenswerte, aber enorm altmodische Vorstellung. Heute arbeiten in vielen Haushalten zwei oder sogar mehr Menschen, und deshalb muß jedes einzelne Einkommen nicht unbedingt zum Leben reichen.

Die US-Ökonomie boomt, aber dieser Turbokapitalismus, so lautet eine Klage aus Amerika, mache ihr Land „kaputt“.

Ganz unproblematisch ist der amerikanische Weg natürlich nicht, weil es dort neben privater Caritas im Grunde keine wirkliche Auffanglinie für diejenigen gibt, die aus dem Nest gefallen sind. Auf der anderen Seite haben die USA außergewöhnliche Erfolge bei der Integration von Minderheiten in den Arbeitsmarkt geschafft, die wir im alten Europa zur Kenntnis nehmen sollten, weil wir davon lernen können, wie sich die Arbeitslosigkeit verringern läßt.

Im historischen Trend sieht es doch so aus, daß die ungeheure Produktivitätsentwicklung dazu führt, daß immer weniger Menschen immer mehr Reichtum schaffen können.

Marx hat das gesagt, unsere Industrieleute sagen das. Es sind gerade diese Leute, die der Politk Schritte nahelegen, die eine Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft nicht zulassen. Dabei könnten wir mit Sicherheit auch mit weniger Industrie viel reicher sein.

Sie können doch auch im Dienstleistungsbereich einen wachsenden Output mit immer weniger Leuten leisten, etwa bei Ihnen im Bankgewerbe.

Dort, wo Vorgänge mechanisierbar sind, etwa beim Zahlungsverkehr, gibt es große Rationalisierungspotentiale. Das ist richtig, aber die Gesellschaft schaut nur immer dorthin, wo Arbeitsplätze wegfallen. Dagegen gibt es eine grandiose Unfähigkeit zu erkennen, wo neue Arbeitsplätze entstehen. Die Welt steckt voller Ideen. Ich glaube, daß viele der Probleme, die wir derzeit haben und die manche dem Kapitalismus zurechnen, im wesentlichen mit der Lohnpolitik eines Kartells und mit regulierten, staatsinterventionistischen Systemen zu tun haben. Ich bin nicht nur über die USA begeistert, sondern auch über Tschechien. In Prag ist die Arbeitslosigkeit verschwunden – nur sechs Jahre nach dem Beginn der Transformation. Mir kommt Deutschland vor wie das Modell des unsinkbaren Schiffes Titanic. Wir bauen das unsinkbare Schiff und tanzen darauf, bis uns der Eisberg erwischt. Wie kann es zum Beispiel sein, daß VW soviel seiner Kraft in die Organisation der Viertagewoche einbringt, statt eine nennenswerte Zahl seiner Mitarbeiter zu talentierten Verkäufern in Malaysia umzuschulen oder um eine Produktion in Malaysia auf die Beine zu stellen? Wir haben dort das Feld einfach den Amerikanern und Japanern überlassen. Ein Teil unserer Beschäftigungsprobleme in Deutschland hängt damit zusammen, daß wir in dem behüteten Gehäuse „deutsche Gesellschaft“ niemandem mehr zumuten konnten, die heimatliche Scholle zu verlassen und nach draußen zu gehen. So kann man im globalen Wettbewerb nicht bestehen.

Am Samstag werden wohl mehrere hunderttausend Menschen in Bonn gegen den Sozialabbau demonstrieren. Daß sind ja für Sie diejenigen, die Strukturen verteidigen, die den Kern der Krise ausmachen – also Krisenverstärker?

Das sind für mich diejenigen auf der Titanic. Was mich am meisten verwundert, ist, daß dabei junge Leute mitmachen, denn die werden von dem bestehenden Sozialsystem nur belastet, ohne je eine ernsthafte Chance zu haben, von diesem System noch zu profitieren. Ich bestreite nicht die gute Absicht, ich sehe, wie engagiert die Leute sind, aber ich glaube, daß das Paket der Bundesregierung einen richtigen Ansatz darstellt, wenngleich ich noch tausend Sachen vermisse. Mit fehlt zum Beispiel ein ernstzunehmender Ansatz für die Reduzierung von Subventionen.

Eine soziale Schieflage sehen Sie nicht?

Das Sparpaket geht in die richtige Richtung, denn der Umbau des Sozialsystems ist unumgänglich, wenn wir auch für die Zukunft gewährleisten wollen, daß den wirklich Bedürftigen geholfen werden kann. Interview: Walter Jakobs