Lustvoll lernen mit allen Sinnen

Kaum eine Pädagogik wird so begehrt und abgelehnt, ist so erfolgreich und doch umstritten wie die Waldorfschule. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dieser etwas anderen Pädagogik? Über Lust und Last der Waldorfschulen  ■ Achim Hellmich

Voltaire hätte seine Freude gehabt: So wie sein Romanheld Condide diese Welt trotz aller Widrigkeiten für die beste aller möglichen hält, so ist mancher Waldorfpädagoge überzeugt von seiner Schule. Dennoch, auch Waldorfschulen sind nicht die Inseln der Seligen. Wie steht es mit dieser Pädagogik? Die Schulkritik der Jahrhundertwende läutete den Beginn der Reformpädagogik ein. Sie setzte der Schule des Untertanengeistes ihre „Pädagogik vom Kinde aus“ entgegen. Die schöpferischen Kräfte des Kindes wurden ent-deckt und sollten seiner Entwicklung gemäß ausgebildet werden. So nannte Steiner seine Pädagogik „Erziehung zur Freiheit“.

An der Waldorfpädagogik scheiden sich die Geister: begehrt, umstritten, abgelehnt, lautet die Bewertungsskala. Sie ist eine Pädagogik, die Theorie, kosmologisch- spirituelle Sicht und pädagogische Praxis verbindet. Anthroposophie ist dabei in erster Linie ein Erkenntnisweg, der zu Erkenntnissen führen kann. Und Waldorfpädagogik eine Methode, die die praktische Ausführung in den Vordergrund stellt. Sie sollte keineswegs eine dogmatische Lehre sein.

Schule muß sich heute mehr denn je nach ihren leitenden Motiven fragen lassen. Die Regelschule hat diese Frage äußerst allgemein und diffus beantwortet: Es bleibt bei einem widersprüchlichen Pluralismus des ,anything goes‘. Alternativschulen gehen dagegen von einer pädagogischen Vision aus. Doch diese sind leichter formuliert als in die Praxis umgesetzt.

Steiner spricht von einer „zu erringenden Menschenerkenntnis“. Waldorflehrer sollen durch Beobachtung und Reflexion die Individualität der Schüler wahrnehmen und danach unterrichten. Die wöchentliche Schulkonferenz bildet ein Forum, pädagogische Fragen miteinander auszutauschen.

Wie sieht der Waldorf-Schul- Weg aus? Von der ersten Klasse an heißt es: tätig sein, nicht abstrakt, sondern konkret, lustvoll lernen mit allen Sinnen. Das heißt: „ganzheitlich-künstlerisch“. Abstraktes, begriffliches und überwiegend intellektuelles Lernen engt dagegen ein, reduziert Entwicklungsmöglichkeiten. Der Unterricht beginnt mit einem rhythmischen Teil, Singen, Chorsprechen oder Intonieren. Eine Doppelstunde folgt, zum Beispiel Lesenlernen. Ein Erzählteil – Märchen, Fabeln, Legenden – schließt den Hauptunterricht ab. Streiten sich manche Lehrer der staatlichen Schule, ob Lesenlernen vom Buchstaben oder vom Wort ausgehen sollte, so werden bei Waldorfs erst einmal Geschichten erzählt und gemalt. Aus den Geschichten entstehen Bilder, in den Bildern stecken Formen, aus denen Buchstabenformen entstehen. Schreibenlernen geht dem Lesenlernen voraus. Und: Die Kinder haben viel Zeit. Alle Hauptfächer werden in Epochen unterrichtet. Sie dauern zirka vier Wochen, jeden Tag die ersten zwei Schulstunden. Der Unterrichtsstoff wird nicht vom 45-Minuten-Takt zerrissen. Der Epochenunterricht ermöglicht einen vielfältigen Zugang zum Thema: verbal oder künstlerisch, praktisch oder theoretisch. Jedes Kind entdeckt seine Stärken. Statt Leistungsdifferenzierung der staatlichen Schule setzt Waldorfpädagogik auf diese Art von Individualisierung. Oft können Kinder in der Waldorfschule nach dem ersten Schuljahr noch nicht lesen, „Staatsschüler“ sind da schon weiter. Steiners Entwicklungsbegriff ist offener als vermutet, keine abfragbare Leistung zum Schulschluß, sondern das Eltern beunruhigende Lehrervertrauen: Irgendwann wird das Kind schon lesen können. Aber wann? Oft erst in der dritten Klasse. Und Singen, Rezitieren, Chorsprechen, Eurythmie (Bewegungskunst nach Sprache und Musik), aber auch Handarbeit, handwerkliches Gestalten, all das fördert auch indirekt das Lesen, Schreiben, Rechnen.

Beispiel Rechnen: auch hier spezielle Zugänge. Zahlenfolgen werden geklatscht, gestampft, gesprungen, rhythmisiert. Oder es wird gefragt: Was ergibt 12? Jetzt sind viele Antworten richtig. 12 = 6 + 6 oder 12 = 2 + 2 + 4 + 3 + 1 und so weiter. So lernt der Schüler: Viele Wege können ein Problem lösen. Bei der Frage „was ist 6 + 6?“ dagegen gibt es nur eine Lösung.

Die Sachkundeepochen sind fächerübergreifend. Basiserfahrungen sollen gemeinsam handelnd erlebt werden. Bei einer Epoche etwa, die vom Brot handelt, wird in ländlichen Waldorfschulen ein Stück Acker gepflügt, der Brotteig gebacken, gegessen. Ist das romantisierend oder volkstümelnd? Oder ist es das Erleben elementarer Sinnzusammenhänge? Zur Oberstufe gehört ein Sozialpraktikum, zum Beispiel in einem Drogenprojekt. Bei der gemeinsamen Arbeit lernen die Schüler das Lebensschicksal anderer kennen.

Jede Pädagogik wirkt durch ihre Lehrer. Waldorfpädagogik bietet große Chancen und auch große Probleme. Der Waldorflehrer hat eine besonders starke Position, da er als Klassenlehrer acht Jahre lang die Klasse führt. Steiner betont, daß die Lehrerautorität für Orientierung und Vertrauen des Schülers notwendig sei. Schon aus der Psychologie weiß man, daß Lehrer schnell Gefahr laufen, sich autoritär zu verhalten. Steiner fordert die Lehrer auf, sich selbst zu schulen, und gibt dafür eine Vielzahl von Übungen an. Wie einen Regenmantel sollen Lehrer ihren Alltagsmenschen an der Garderobe abgeben, bevor sie in die Klasse gehen. Als reale Ergänzung könnte man ihnen team-teaching empfehlen. Anthroposophie und Waldorfpädagogik sind in steter Entwicklung. Verlöre die Pädagogik diesen Charakter, würde sie versteinern. Permanente Revolutionen sind gerade da schwer, wo schon (Schul-)Reformen meist den Rückschritt nach sich ziehen. Nur eine zukunftsoffene Pädagogik ist eine Alternative.

Der Autor ist Erziehungswissenschaftler mit Schwerpunkt Waldorfpädagogik in Berlin